Nation mit schlechtem Gewissen

■ Selbstreflexionen eines Mitschuldigen

Kurzessay

In den sechziger Jahren gab ein Frankfurter Theater als Gastspiel Gogols Revisor. Es war einer jener seltenen Festspielaugenblicke, die das Theaterpublikum mit gespannter Aufmerksamkeit erlebte. Damals konnte sich jeder westdeutsche Kunstgast, was immer er zu bieten hatte, ovationsartigen Beifalls sicher sein. An der Stelle „Sogar der Staatsrat hat vor mir gezittert!!“ wurde die Darbietung von dröhnendem Gelächter und begeistertem Applaus unterbrochen. Die Schauspieler waren sichtlich irritiert. Sie konnten nicht wissen, daß sie unabsichtlich eine politische Pointe gegen den eigens für Walter Ulbricht geschaffenen Posten des Staatsratsvorsitzenden geliefert hatten.

Alle Kunst begegnete „in jenen Tagen“ solchem schwer abzuwehrenden Erwartungsdruck. Sie sollte Trübsinn malen, stummen Protest andeuten und gelegentlich derbe Attacken reiten - ohne Namensnennung. Zu lauter Protest erschreckte. Wolf Biermann, der brutal die Wahrheit über den Bonzenstaat zur Sprache brachte, war den meisten zu offen, zu ungeduldig. Er bediente nicht den stillen Wunsch nach Unterwerfung. Unsere Schriftsteller waren ebenso überfordert wie die Künstler. Das Publikum las begierig die Zeilenzwischenräume. Die entdeckten Anspielungen wurden zur Hauptsache. Äsopische Texte wurden kopiert, weitergereicht. Man eilte zu Lesungen und belohnte freigegebenen deftig -harmlosen Scherz. Bei den feineren Schriftstellern war die Kritik raffinierter. Sie befriedigte nicht nur die unterdrückte aggressive Lust am Witz, an der subversiven Rede, sondern lieferte auch noch Nahrung für tränenselige Selbstbestätigung, daß wir ungerecht litten, moralisch und intellektuell aber unseren Käfigwärtern überlegen wären.

Die besten Beispiele für die masochistisch-larmoyante Attacke gegen uns selbst, vermengt mit scharfsinnig-dünner Kritik am Bestehenden, hat vielleicht Volker Braun geliefert. Die Inszenierung seiner Übergangsgesellschaft im Berliner Maxim-Gorki-Theater war der späte Höhepunkt vor dem Abschied. Uns verschlug es die Sprache: dieser gnadenlose, vernichtende Angriff auf „die da oben“ und gleichzeitig auf uns selbst, aber alles zugedeckt wie eine anstößige Skulptur vor ihrer Enthüllung! Wir blinzelten uns zu, stießen uns mit den Ellbogen an und waren aufs äußerste gespannt, während der westdeutsche Gast mit uns, dem wir eine DDR-spezifische Delikatesse anzubieten glaubten, fast keine Anspielung mitbekam und ziemlich gelangweilt war. Es gibt eine ganze Plejade solcher Andeutungsdissidenten, und die jetzt vielgeschmähte Christa Wolf gehört dazu. Offenbar betrachtet man sie alle nunmehr als zum Abschuß freigegebenes Hegewild. Wir sollten nicht mit bei der Hatz sein. Wir sollten fair bleiben. Wir sollten auch jetzt nicht vergessen, daß auch sie am Rande des Absturzes balancierten. Wer wirklich laut die Wahrheit sagte, war sofort weg vom Fenster, in der inneren Emigration und bald auch draußen. Siehe Wolf Biermann oder (so ganz verschieden) Rainer Kunze und andere. Hut ab vor ihnen. Es gab andere, die agierten vorsichtiger, hatten vielleicht auch mehr idealpolitische Illusionen und verstauchten sich dennoch oft genug das seelische Sprunggelenk. Manche, wie Stephan Heym, waren gefährdet. Sie haben einiges riskiert. Nicht alles, im Spiel blieb genug Vorsicht. Sollen wir die Gesinnungsklauberei nun wiederholen, die nach 1945 die Szene beherrschte?

Es trifft zu, daß die Bevölkerung im Herbst sich weigerte, „für unser Land“ einzutreten, wie es ihr die Intellektuellen nahelegten. Die Menschen antworteten: Ihr habt ja (mit euren Westreisen, Tantiemen, Honoraren, Westautos, Luxuswohnungen, Sondervergünstigungen) gar nicht in „unserem Land“ gelebt, wie könnt ihr da seine Rettung verlangen? Wer zum Beispiel an den Dokfilm Winter ade! mit den Schilderungen erbärmlicher Frauenschicksale in der DDR denkt, wird auf diesen Vorwurf nur schweigen können. Was aber nicht zutrifft ist, daß die Intellektuellen sich einseitig auf die Seite der Machthaber geschlagen hätten. Die Leser wollten sie so haben; sie kauften die Bücher zu Hunderttausenden, sie hatten die Panzer des 17. Juni für Jahrzehnte verinnerlicht und mieden sogar den Gedanken an eine offene Revolte. Die Schriftsteller drückten den leidenswilligen Wunsch ihrer Anhänger aus, das eigene Schicksal in elegischer Noblesse geschildert zu bekommen. Ihr internationaler Erfolg war Balsam auf die wunde realsozialistische Seele. Das Verhalten der Schriftsteller war ebenso, nenne man es nun edel oder korrupt, wie das der übrigen Bevölkerung. Ich staune über den Mut vieler Intellektueller, die es fertigbringen, den Pharisäer zu spielen. Ich kann es nicht, ich schäme mich, und der Gedanke an mein eigenes Verhalten verbietet mir, über andere zu Gericht zu sitzen. Jahre, Jahrzehnte lang haben wir geschwiegen. Genauer: unseren Protest in den Bart gemurmelt. Hinter verschlossenen Türen artikuliert. Wir haben Robert Havemann allein gelassen, uns hinter Vorbehalten gegen seine Person, gegen die Handlungen seiner stalinistischen Phase versteckt. Mit Unbehagen erinnere ich mich an einen Zwischenfall anläßlich einer reichlich verquasten Liebhaberaufführung einer Kafka-Adaptation auf dem Boden eines Hinterhauses im Prenzlauer Berg. Wolf Biermann war unter den Zuschauern und las uns in der Diskussion die Leviten: Ihr feigen Intellektuellen! Wie könnt ihr euch hier analytisch selbst bespiegeln, euch an eurem inneren Kafka weiden? Eure Widersacher sind doch nicht, wie im Prozeß, anonym, rätselhaft, ihre Taten sind nicht versteckt und undurchsichtig. Alles liegt klar zutage. Ihr müßt nur sagen, was ihr seht und hört! Wie sollen die armen Werktätigen zur Klarsicht kommen, wenn ihr hier feinsinnigen Nebel versprüht? Wir fanden auch hier Entschuldigungen, weshalb wir Biermann nicht folgen wollten. Er war zu rüde, zu illegal, hatte sich früher selbst mit Teer beschmiert.

Auch für mich persönlich habe ich ein schlechtes Gewissen. Ich habe zum Beispiel jahrelang ein Manuskript im Schreibtisch versteckt, mit dem ich versuchte, des Stasi -Syndroms im Alltagsleben Herr zu werden. Wenn die Stasi (noch) nicht der direkte Gegner im Boxring war, der dich mit knallharten Kinnhaken niederstreckt... Ich habe mich erst 1987 entschlossen, den Text zu veröffentlichen. In einer westlichen Zeitschrift ('Lettre‘, 5/1988). Unter Pseudonym. Aus Angst natürlich. Hätte ich meinen eigenen Namen gegeben, dann hätten sie bei der Akademie formal das Recht gehabt, mich wegen Verstoßes gegen die Publikationsbestimmungen aus meinem Brotberuf zu feuern. Genau wie viele Schriftsteller, die ihren Job im Verband nicht riskierten. Ich hatte auch Angst, in den Westen abgedrängt zu werden. Ohnehin schützten mich in meiner Position damals nur das brüchige Arbeitsrecht und der Unwille der Machtverwalter, sich öffentliche Skandale einzuhandeln. Außerdem hoffte ich, die Stasi würde mich unter dem Pseudonym nicht enttarnen. Zu meiner halben Ehrenrettung kann ich noch sagen, daß ich den Text auch einer hektographierten Samisdatzeitschrift bei uns gegeben habe (wieder nur unter Pseudonym). Aus deren Publikation wurde aber wegen polizeilicher Eingriffe nichts. Meine kümmerliche Widerstandsbilanz. Ich bin mitverantwortlich. Wir hätten Jahre sparen können, verlorene Jahre unseres Lebens, die wir jetzt beklagen. Der Herbst hat geklärt, daß das Volk nur dann in Ketten bleibt, wenn es sie stillschweigend annimmt. Es ist auch nicht jeder frei, der seiner Ketten spottet. Auch nicht, der seine Ketten im Leidenston kommentiert.

Wir hatten Vorbilder, die uns beschämen. Die Polen, bei denen der kollektive Widerstand nie ermüdete. Die heroischen Einzelkämpfer und Grüppchen in der Sowjetunion; Wladimir Bukowski ist ein dramatisches Beispiel. Viele wurden im Abwehrkampf gegen die paranoide Wahnwelt selbst zum Paranoiker. Und nicht zu vergessen, die jungen Leute bei uns, die langhaarigen, unansehnlichen, die drop-outs ohne respektierlichen Beruf und geordnete Lebensweise, in den Kutten und Latschen, des Theaterdeutschen nicht mächtig, die Unbequemen der Friedensgruppen, die Kriegsdienstverweigerer und die „Kirche von unten“. Sie blieben lange verfemt und als kleine Gruppe allein, und jetzt sind sie wieder am Rande. Wir sollten einzelne nicht zu Sündenböcken für unser gemeinsames Versagen stempeln. Jeder sollte sein eigenes Gewissen erforschen. Wer ohne Fehl ist, der werfe den ersten Stein.

Jens Reich

Der Autor ist Naturwissenschaftler und zur Zeit Volkskammerabgeordneter des 'Bündnis 90‘.