„Tief unten“ in Kreuzberg 36 wider Willen

■ Eine Kreuzberger multikulturelle Schauergeschichte aus den Tagen der Fußballweltmeisterschaft 1990

Kreuzberg. „Berliner aller Länder, vertragt Euch“ - mein Gott, was für ein Schwachsinn, und das auch noch im Kreuzberger 36er Kiez, wo nun wirklich seit vielen Jahren Ausländer aller Länder leben und sich vertragen. Soll der Senat die dämlichen Plakate doch in Neukölln oder im Märkischen Viertel aufhängen, wo die Leute es echt nötig haben, verdammt. Kreuzberg ist nun mal die Hochburg der toleranten, verständnisvollen und internationalistisch solidarischen Alternativszene. Hier akzeptiert man die Türken, und den Polen würde man niemals die Schweinerei mit der Visumpflicht unterjubeln. Hier nicht. So dachte ich bis letzten Mittwoch. Doch nun weiß ich: Jeden kann es treffen, niemand ist mehr sicher. Auch nicht in Kreuzberg.

Sich hinter körperlicher Größe, güldenem Haar oder graublauen Augen zu verstecken bringt ebenfalls nichts mehr. Im Gegenteil: Lediglich die Kriterien für „minderwertiges Leben“ haben sich von den traditionell physiognomischen mehr zu modischen gewandelt.

Es war frühmorgens um neun Uhr. Ich sollte mal wieder für den Kinderladen kochen und hatte es mächtig eilig. Also schabte ich meine Käs spatzen, zauberte vorzüglichen Salat, packte zwei Wassermelonen nebst weiterem Knabberzeug für die lieben Kleinen zusammen und wirbelte und wirkte bis kurz vor Mittag. Natürlich hätte ich längst im Betrieb sein sollen. Hurtig hängte ich mir die vier vollen schweren Taschen um und machte mich auf den langen Weg in die Muskauer.

Dabei trug ich meinen alten, schwarz-gelben Lieblings-TV -Trainingsanzug überm Nationaltrikot, mit dem ich mich sonst nie in der Öffentlichkeit zeigen würde. Ehrlich nicht! Nachbarn, die mir stets mit freundlichem Kopfnicken begegnen, würdigten mich plötzlich keines Blickes mehr. Auf Höhe der Reichenberger fiel mir außerdem ätzend auf, daß meine neuen, blendend weißen Turnschuhe von „Neupert“ noch rutschten. Zu Hause trage ich während der Weltmeisterschaft ja immer die Kickschuhe. Nur der Atmosphäre wegen. Zugegeben, ein etwas blöder Spleen. Linke tun so was ja eigentlich nicht, gell? Aber mein Kleiner trägt sogar die Knieschützer dabei; das halte ich nun wirklich für übertrieben. Is‘ ja lächerlich. Ich hab's ihm jetzt strikt untersagt.

Naja, wie auch immer. Ich lauf‘ da also und rutsch natürlich immer ein bißchen weg. Und schwül isses, also mach‘ ich am Heinrichplatz Station und zisch mein Schultheiss zwischen ein paar Punkies. Muß einfach mal abrülpsen. Fühl mich sofort besser und schau in die Runde. Was hab ich 'nen Schreck gekriegt: Verächtliche, ja haßerfüllte Blicke von allen Seiten. Einer spuckt vor mir auf den Boden. Nur die Punkies sind ganz nett. Weiß auch nicht warum, von mir kriegen die nie was. Doch ich verstehe erst, als eine Szenebraut mit Rucksack im Vorbeigehen etwas murmelt, was ich eindeutig als „Pollacke“ identifiziere.

Panik durchzuckt mich. Die halten mich alle für nen Polen, sogar die Szenies. Schamesröte bezieht mein verschwitztes Antlitz. Ich lass‘ die Dose stehen, schultere mein Gepäck und rase los. Ein Pulk Ex-DDR-Bürger rollt mir entgegen. Sie haben auch Gepäck, aber die Modehampel tragen Levi's-501 -Jeans und die neuen Torsions von adidas. In der Eile rutsche ich leicht weg, dabei muß ich einen von ihnen mit dem Römertopf am großdeutschen Knie erwischt haben. „Schwirr ab, du Polenwespe“, brüllt er und ballt drohend die stahlharten Malocherfäuste. Es reicht. Ich kapituliere. In fließendem Deutsch kläre ich den verdutzten Mann über den wahren Sachverhalt auf. Klar wie Kloßbrühe sei ick Westberliner Bürjer, und meen Stammbaum reische locka bis nach Ulm/Donau in Baden-Württemberg zurück. Natürlich hüte ich mich, die Kanaille darauf hinzuweisen, daß meine Dortmunder Oma mütterlicherseits eine geborene Leschinsky war. Astreiner ostpolnischer Ruhradel sozusagen. Würde der doch voll in den falschen Hals kriegen. Gut auch, daß meine griechische Frau nicht dabei ist oder mein südfranzösischer Paps. Baden-Württemberg wiederhole ich dagegen mit süffisantem Grinsen und gezückter Braue und erkläre wie beiläufig, daß dort schließlich „seit jeher die Ursuppe des Kapitals am Kokeln“ wäre. Die 200 Pfund 40jährigen gepreßten Schwachsinns knurren zwar noch, doch muß ihn meine „Berliner Schnauze“ für einen Moment paralysiert haben. Ich nutze den Augenblick und stakse von dannen. So würdevoll es die Umstände gestatten, versteht sich. Die Arme schmerzen, Schweiß kriecht über meinen Körper. Ich haste weiter und bestrafe gelegentliche Pöbeleien mit der Verachtung des verkannten Reinrassigen. Am schlimmsten sind die vielen Blicke, die stets auf einem ruhen. Man spürt sie. Sie brennen richtig auf der Haut. Entgegenkommende polnische Landsleute grüße ich mittlerweile im lässigen Motorradfahrerstil - leichtes Anheben der linken Hand. Oh mein Gott, geduscht hab‘ ich auch nicht. Es zwickt und zwackt im Schritt, aber ich lang nicht hin. Bin doch nicht blöd. Nachher werd‘ ich noch als Krakauer Sittenstrolch zusammengeschlagen. Geduckt lauf‘ ich weiter. Dort vorn stehen ein paar Freaks am Straßenrand. Mit lautem Stöhnen versuche ich einen mitfühlenden Blick oder ein liebes Wort zu erhaschen. Aber es klappt nicht. Die sehen glatt durch mich hindurch. Bin am Ende. Nur der Gedanke an die Leiden des jungen Wallraff läßt mich durchhalten. Die Türken sind wenigstens anständig. Sie schauen weg.

Endlich Muskauer. Mit letzter Kraft schiebe ich mich durch die Tür zum Hinterhof. Geschafft! Ich erkläre dem Erzieher die delikate Situation. Er versteht sofort und sucht mir ein paar Ersatzklamotten der größeren Kids raus. Ein rosa Short, ein ehemals weißes T-Shirt mit Night-Rider drauf und ein paar ausgelatschte 39er Damen-Reeboks. Is‘ ziemlich eng alles. Aber es geht. Auf dem Rückweg werde ich nur einmal als dämliche Tunte beschimpft. Der Typ hat Glück. Er hat ganz klar „dämliche“ gesagt, nicht etwa „polnische“.

Philippe Andre