Ikarus schmolzen die Flügel

Für die Gastgeber ist das Fest zu Ende: Italien verliert nach Elfmeterschießen gegen Argentinien mit 5:4 und versinkt in Trauer  ■  Aus Neapel Herr Thömmes

Als sei es noch nicht genug mit den traurigen Gestalten, kam dann auch noch dieser Straßenhändler, den Wagen vollgestopft bis unters Dach mit Ciao-Männchen aus Gummi und anderen Devotionalien der Fußball-WM. Warum hat er den ganzen Ramsch nicht einfach liegenlassen, wer soll ihn jetzt noch kaufen? Die vielleicht, die sich vor einer Stunde noch hier heulend in den Armen lagen oder nur einfach betreten vor sich hin starrten? Er hat auf Boom gesetzt und seine Investitionen verloren. Spätestens morgen wird er das einsehen.

Sonst ist kaum noch jemand unterwegs beim Stadion San Paolo; Neapel, das am Mittag noch voll angespanntem Lärm war, schweigt jetzt. Banausen in Sachen Fußball werden von einer der ruhigsten Nächte schwärmen, und die anderen? Diskutieren schon wieder taktische Malaisen und Spielszenen und die Tatsache, daß der Stadtheilige San Gennaro sich einfach nicht hatte entscheiden können, wem er denn nun helfen solle.

Die Frage hatte sie ja alle ein wenig gespalten, und in den Zeitungen war sie über breite Seiten hin- und hergewälzt worden. Mehrheitlich hatten sie sich dann doch für Italien entschieden und gegen Maradona, der mit seinen Künsten der Stadt Neapel schon zwei Meistertitel schenkte, aber so ganz eindeutig ging das dann doch nicht. Kapitän Bergomi klagte ein wenig und Trainer Vicini auch über die fehlende Unterstützung, die sie aus Rom so gewöhnt waren. Doch das erklärt nicht, warum nun Argentinien im Finale steht.

Wenn es da überhaupt etwas zu erklären gibt. Möglicherweise kommt Diego Maradona der Sache am nächsten: „Ein Wunder.“ Bloß wer, wenn nicht San Gennaro? Es könnte auch ein ewiges Rätsel bleiben, was da am Dienstag abend passierte, denn hatten nicht alle, die guten Willens sind, nur eine Hoffnung gehabt: daß endlich welche kämen und dieser Mannschaft so richtig die Löffel langziehen und dann auch noch einige dahinter hauen würden. Weil sie auf so schändliche Weise die Geduld auch der treuesten Anhänger malträtiert hatten mit ihrem gräuslichen Gekicke, daß Gerechtigkeit ganz einfach gefordert war.

Nichts war's, und Azeglio Vicini muß es irgendwie geahnt haben. Immer wieder hat er die Tatsache verflucht, daß die Seinen im eignen Land zum Vorwärtsdrang gezwungen wären, und immer wieder hat er gehofft, daß sie nicht irgendwann dafür werden büßen müssen. Andernorts, da hätten sie ihre 1:0 und 2:0 in Ruhe nach Hause geschaukelt, sich mit diesen Rückgaben zum Torwart über die Zeit gerettet und bei den Pfiffen des Publikums Vicinis Credo in den Ohren gehabt: „Alles ist richtig, wenn das Ergebnis stimmt.“

Doch die eigenen Leute wollen Unterhaltung und Spaß bis zur neunzigsten Minute, das ermüdet. Und am Ende schleppten sich die italienischen Spieler über den Rasen, hinkte Ferri von einem Krampfanfall zum nächsten, plagte sich Schillaci mit Schmerzen. Nur die Argentinier schienen wie von Bleiwesten befreit, je länger das Spiel dauerte, und der mutmaßliche Frührentner Maradona kam mit forschreitender Zeit immer mehr in Schwung; jawohl, in Schwung.

Das hätte doch im Ernst niemand geglaubt, daß diese Argentinier allen Groll würden vergessen lassen können. Nicht vor dem Spiel und nicht nach Schillacis - wer sonst? Tor nach schon siebzehn Minuten. Maradona mit Ganiggia in der Spitze, was für eine Hilflosigkeit, was für ein dummer Versuch, der Abwehr beizukommen! Irgendwer muß dann in der Pause einen starken Mate gebraut haben, Troglio kam dazu, und der Ausgleich überraschte schon nicht mehr: Caniggia hatte mit dem Kopf verlängert (68.), es war nicht seine erste Chance.

Vicini versuchte alles, in der regulären Zeit die Sache zu entscheiden, so als wüßte er, daß die Minuten gegen Italien spielen würden: Serena und Baggio kamen, die Angriffslustigen, aber da irrte längst Maldini auf der ungewohnten linken Seite ziellos umher, nervte sich Zenga durch eigene Unsicherheiten, wurden Ferri und Bergomi im Wechsel von Maradona und Caniggia gehetzt, ruhte Schillaci im Abseits. Sie versuchten alles, Donadoni und de Napoli vor allen, nur Burruchaga und die anderen zeigten verschütt geglaubte Qualitäten.

Plötzlich lag Baggio am Boden, Giusti mußte vom Platz, der Linienrichter hatte einen Schlag gesehen - 23:21 Minuten dauerte diese erste Hälfte der Verlängerung. Und trotzdem war zu spüren, daß nichts Positives mehr für Italien passieren könnte: Beim Schlußpfiff warf Maradona die Arme in die Luft, als sei bereits gewonnen.

Viermal noch gellten Pfiffe im Stadion, immer wenn Serrizuela, Burruchaga, Olarticoechea und Maradona zum Elfmeter anliefen, dann hatten Donadoni und Serena in Goycoechea den Meister gefunden. Und keiner hat solche Befürchtungen blumiger umschrieben wie Guiseppe Bergomi: „Ich will nicht wie Ikarus enden. Er kam der Sonne zu nah und stürzte ab.“

Das könnte auch den argentinischen Höhenfliegern passieren. Batista, Giusti, Olarticoechea, Caniggia, alle vier sind im Finale gesperrt. Aber wen interessiert das hier noch. Die Spannung ist weg, die Weltmeisterschaft irgendwie zu Ende. Die restlichen Tage gehören anderen.

Argentinien: Goycoechea - Simon - Serrizuela, Ruggeri Giusti, Basualdo (100. Batista), Burruchaga, Calderon (46. Troglio), Olarticoechea - Caniggia, Maradona

Italien: Zenga - Baresi - Bergomi, Ferri - Donadoni, de Agostini, de Napoli, Giannini (75. Baggio), Maldini Schillaci, Vialli (71. Serena)

Zuschauer: 59.978

Tore: 0:1 Schillaci (17.), 1:1 Caniggia (68.)

Tore im Elfmeterschießen: 0:1 Baresi, 1:1 Serrizuela, 1:2 Baggio, 2:2 Burruchaga, 2:3 de Agostini, 3:3 Olarticoechea, Donadoni (gehalten), 4:3 Maradona, Serena (gehalten)