Ein Mondgebiet voller Ideologietrümmer

■ Der neue Berliner Alltag ohne Mauer und Aluchips / Leben zwischen Euphorie und Angst / Über die Magie des Mauermülls

Berlin. Freiheit! Eine Parole springt Passanten an. Mit roten Buchstaben auf eine bröckelnde Kreuzberger Hauswand geknallt, wirkt das Wort geradezu bedrohlich. Freiheit für was, für wen, von was? Das beantwortet jeder anders in Berlin, besonders seit sich die Scheunentore der Freiheit weit geöffnet haben und die alte Demarkationslinie zu einer DMarkationslinie wurde. Was den einen Freiheit ist, ist den anderen Bedrohung vice versa.

Freuheut! Ganz in der Nähe der roten Parole, auf dem Brachfeld des ehemaligen Todesstreifens zwischen Waldemarstraße und Leuschnerdamm, haben die Bewohner eines ramponierten Bauwagens die Parole lebensnah umgewandelt. Was dich heute nicht freut, ist keine Freiheit, könnte man das schief auf die schwarze Wagenwand geschrappte Wort interpretieren. Welche Freuheut, welche Freude? Über den Abbruch der Ghettomauer um halb Kreuzberg, über die plötzliche Zugluft im Rücken kam unter den grünhaarigen Herren in der Wagenkolonie und ihren grünbemoosten Hunden gewiß keine auf. Deshalb wohl auch haben sie sich weggeduckt schon am hellichten Nachmittag. Von der Wucht der Grenze befreit - nur die Zweitmauer hinter dem Todesstreifen steht noch -, verströmt der Platz eine bösartige Leere. Die Bauwagen, klein, schief, krumm, schmuddelig, kauern sich aneinander, zwei verrostete Busse haben sich wie Kaninchen im Liebesglück übereinandergeschoben. Give Aids a chance!, kommentiert hämisch eine Wandparole. Hinter einer angelehnten Tür posieren Brotkrümel auf verlassenen Frühstückstellern. Eine undefinierbare Fahne weht.

Eigentlich sollte ein solcher Ort wie geschaffen sein für die Müllmenschen der Punks. Es ist eine riesige Schutthalde, die sich nun rings um West-Berlin schlingt, ein gelbgraues Mondgebiet voller Ideologietrümmer, überschattet von abgemurksten Flutlichtanlagen, eine Plattenschlacht zwischen Unkraut, Sand und Scherben als letztes Lebenszeichen eines vernichteten Staates. In seinen toten Augen, den Wachtürmen mit den ausgeschlagenen Fensterscheiben, toben nun die Kinder, durch sein abgenagtes Gerippe spazieren Liebespaare. Sie alle ahnen: Der Mauerstreifen, unwirklich unwirtlich, ist ein Ort moderner Magie.

Freie Fahrt! Pünktlich zur Währungsunion sind der Leuschnerdamm und die Adalbertstraße wie soviele andere durchgeschnittene Straßen wieder zusammengeteert worden. Zornige Anwohner müssen sich wiedervereintes Autogeheul anhören, hinüber und herüber, es kündigt sich die Verwandlung der Stadt in einen ewigen Verkehrsstau an. „Auto - Gift - Mord“, haben die Erbosten aus West und Ost auf den schwarzen Teer gepinselt, vielleicht mit Rosa Luxemburg im Geiste, ein wenig modernisiert: Die Freiheit ist immer die Freiheit der Autofahrenden.

Freilicht! Die Adalbertstraße ein paar Schritte weiter in den Osten hinein, und die Bühne ist frei für die Kunst. Ein Haus ist besetzt und bunt bemalt worden, und sein Mobiliar - es könnte auch das ideelle Gesamtmobiliar des Staates DDR sein - hängt angeschraubt vom Erdgeschoß bis in den vierten Stock an der Außenwand: Kinderwagen, selbstredend. Fernseher mit Gorbatschows Charakterkopf. Bier im Einkaufswagen. Rasenmäher samt Betriebserlaubnis: „Mo bis Fr 7 bis 17 Uhr“. Und dann noch, besonders gemein: „Ideen, die die Welt verändern - ein Lenin Lesebuch“. Aufgespießt der Spießerstaat, auf den Punkt gebracht.

Zu seinen größten Verbrechern gehörten die Architekten. Direkt gegenüber präsentiert sich betonquatratisch die Trostlosigkeit eines „Arbeiterwohnheims“, in dessen Fenstern sich dunkle Köpfe zeigen. Vietnamesen. Einst als willige und billige Arbeitskräfte ins Land geholt, nun nicht mehr erwünscht, der neuen Freiheit des Arbeitsmarktes und des Rassismus ausgesetzt.

Freiwild! Die Mauer wird zur Klagemauer. „Alle sind gegen Ausländer und nur für DM - was wird kommen?“ hat einer weiter weg, in Höhe der Bernauer Straße im Wedding, besorgt die Wand befragt. Hier ist die Mauer grauer, nicht so kreuzbergbunt, und das Gelände um so wilder, hügeliger. Den Bernauer Todesstreifen entlang geht es Sandhügel hoch und runter wie Geisterbahnfahren, und die östlichen Häuser, die man aus den Filmstreifen von 1961 kennt, hängen schwer von Geschichte über den Passanten. Bis die Geisterbahn, die seit Sonntag keine mehr ist, die Menschen aufnimmt: Der U-Bahnhof Bernauer Straße mitten im Grenzstreifen ist wieder geöffnet, und der Zug Richtung Leinestraße hält tatsächlich an jedem „Ostbahnhof“. Geisterhaft waren auf der Strecke früher die Gesichter der wacheschiebenden Polizisten vorbeigewischt, nun sind alle Stationen taghell erleuchtet, damit man die frisch gepappten Werbeplakate ja nicht übersieht. Wo all die Aufpasser und Grenzpolizisten jetzt wohl sind? Einer von ihnen, einen Tag vor DM-Day befragt, hatte mit dem Zeigefinger in die Luft gestochen: „Weiß der Himmel.“

Freiheit! Die Hausfrauen des Dörfchens Mahlow hinter dem südlichsten Zipfel von West-Berlin scheinen sich auszukennen mit der dialektischen Vertracktheit, daß die Freiheit der einen meistens die der anderen beschränkt: „Man versucht uns wieder zu verdummen.“ Hinter der Grenze ein paar hundert Meter die gepflasterte Dorfstraße hinab und am blitzblankem Blumenschmuck der Vorgärten vorbei, stehen sie in einem kleinen Lebensmittelladen. Unmöglich teuer seien die Westwaren, hier genauso wie in Ost-Berlin, da wolle wohl jemand das dicke Geschäft mit der Unwissenheit der Leute machen. Und weiter rein im Dorf und im Land, „da kriegen Sie überhaupt nichts mehr, da ist immer noch alles ausverkauft und das wenigste nachgeliefert“. Also, berichten sie, führen die Mahlower alle nach Lichtenrade zum Einkaufen und stünden ihre Schlange vor Aldi, „aber die Lichtenrader sind darüber sehr böse, und das kann man ja auch verstehen“.

Dafür haben die im Westen hier einen großen Abenteuerspielplatz dazugewonnen, den Todesstreifen zwischen Lichtenrade und Mahlow. Hier wuchert der Mauerpfeffer, kriecht die Kamille, strotzen üppigrosa die Weideröschen, und mittendrin backen Kinder seltsame Gebilde aus Sandboden. Die fremde Passantin wird energisch gewarnt: „Mach meine Mauer nicht kaputt!“

Hier kann noch niemand ohne Mauern leben.

Ute Scheub