STREBEN NACH UNABHÄNGIGKEIT

■ Narva und Tallinn: Augenblicke in der Republik Estland

Narva und Tallinn: Augenblicke in der Republik Estland

Von Steffi Engert

Von Leningrad nach Westen auf der Hauptstraße, die über Tallinn nach Riga führt, parallel zur Küste. Durch die grauen, sich kaum unterscheidenden Kleinstädte des Leningrader Gebiets, durch gleichförmige Wälder, an altrussiches Holzhäusern vorbei. „Bald sind wir an der Grenze“, sagen mit einer Spur gutmütigen Spotts meine Begleiter, zwei Leningrader. Doch grundsätzlich ist man sich einig: die Unabhängigkeit der estnischen Republik wird unterstützt.

Kurz darauf überqueren wir auf einer Brücke die Narva, den Grenzfluß zwischen Rußland und der Estnischen Republik. „Da ist die russische Festung von Ivangorod und dort die Burg von Narva. Man sagt, daß nirgendwo sonst zwei gegnerische Burgen so nah einander gegenüber stehen.“ Letztere ist unser Ziel - jedenfalls für heute.

Etwa Zweidrittel der im Zweiten Weltkrieg fast völlig zerstörten Ordensritterburg sind heute restauriert - der Rest wird folgen, wie mir später Valeri von der Museumsdirektion erklärt; die Pläne sind fertig, aber es wird noch Jahre dauern, sie alle in die Tat umzusetzen. Stolz ist er, zu Recht, auf das, was schon getan wurde. In einem kunterbunten Gemisch von Russisch, Englisch und Deutsch erklären er und Lena, die auch beim jetzigen „Burgherrn“, dem Stadtmuseum von Narva, arbeitet, die einzelnen Gebäudeteile, die von den wechselnden Herren, den Dänen, dem livländischen Rittersorden und den Schweden erbaut wurden. Ihr eigenes Konzept von der heutigen Burg ist beileibe kein rein museales. Die Burg soll leben und nicht nur Ziel für historisch beflissene Touristen sein. Das „Cafe Rondell“ in einem der trutzigen Rundtürme entpuppt sich als gemütliches, geschmackvoll hergerichtetes Restaurant auf zwei Etagen, dessen Möbel auf einer zur Kooperative umgewandelten estnischen Kolchose geschreinert wurden. In einem anderen Turm werden allmonatlich wechselnde Ausstellungen gezeigt - Werke von estnischen jungen KünstlerInnen, aber auch Kunsthandwerk, Fotographien aus der Theaterwelt Leningrads, um nur einige Beispiele zu nennen. Der Rittersaal wird für Konzerte und Vorträge genutzt, ein anderer großer Raum wurde zum Theater ausgebaut.

Die Stadt Narva bietet, abgesehen von einer etwas grauen Beschaulichkeit und einigen wenigen schönen älteren Häusern heute dem Auge nicht mehr viel. Vor dem Krieg war das anders. Bis auf wenige Reste - gerade soviel, um einen Eindruck zu haben, was hier verloren ging - wurde die Stadt unter der deutschen faschistischen Okkupation und den Abwehrkämpfen der Roten Armee 1940/41 zerstört.

Am anderen Tag fahren wir die 15 Kilometer bis zur Ostseeküste - nach Narva-Ijessu. Ein Dorf mit 4.000 EinwohnerInnen, in dem die Welt stehengeblieben zu sein scheint. Die Badesaison an der See hat noch nicht angefangen. Zu den Einheimischen gesellen sich deswegen nur die Kurgäste des Sanatoriums. An den stillen Straßen, die schachbrettartig parallel zur Küste und im rechten Winkel dazu verlaufen, stehen Holzhäuser im estnischen oder russischen Stil und einige wenige, meist häßliche Steinhäuser sowjetischer Bauart. Ein friedlicher Park in der Mitte des Orts, an seinem Rand das alte, verfallene Kurhaus, das einstmals ein Rokoko-Palais gewesen ist.

Vom Bürgermeister, der erst kürzlich in sein Amt gewählt wurde und der Narva-Ijessu entwickeln, aber nicht zerstören will, erfahren wir, wo der Schuh am meisten drückt. Notwendig sind Restaurationsarbeiten im große Stil an den Holzhäusern. Natürlich soll auch das Palais wieder hergerichtet werden, vielleicht als kleines Kongreßzentrum. An vielen Stellen wurde mit solchen Bauarbeiten schon begonnen, zum Teil in Kooperation mit ausländischen Firmen. In jedem Fall bleibt noch viel zu tun, denn auch Narva -Ijessu leidet unter den traditionellen sowjetischen Problemen. Auch hier herrscht Wohnungsnot, leben zuviele Leute in zu kleinen Wohnungen. Zusätzlich zur Wiederherstellung der alten Bausubstanz sind deswegen Neubauten dringend erforderlich. Die Versorgung der EinwohnerInnen mit lebensnotwendigen Verbrauchsgütern ist hier genauso schlecht wie auch sonst in der UdSSR. Ein neuer, besser ausgestatteter Laden, eventuell ebenfalls in Kooperation mit einer westlichen Firma, steht daher weit oben auf der Prioritätenliste des Bürgermeisters, denn, so sagt er, das wäre eine Verbesserung für alle und würde das Vertrauen, daß sich wirklich etwas positiv verändert, ungeheuer heben. Ökologische Probleme? Ja, natürlich, sie existieren auch. Zwar gilt Narva Ijessu noch als ökologisch intakter Kurort, und man kann in der Ostsee hier noch baden, aber in den Wäldern ringsum ist in der Vergangenheit zuviel Kahlschlag betrieben worden.

Die Hoffnungen des Bürgermeisters richten sich wie die der Museumsleute darauf, daß in der neuen Estnischen Republik Narva und Narva-Ijessu als russische Ortschaften ein Autonomiestatut bekommen und sie dann in eigener Verantwortung und durch eigene Initiative die Entwicklung vorantreiben können.

Der Tradition nach - und vor der Sowjetzeit auch faktisch war Estland ein Bauernland. Die Städte entstanden als Fremdkörper durch die ausländischen Herren, wobei die Deutschen, die Reval (heute Tallinn) als Handelszentrum gründeten. Doch heute gilt Tallinn auch den Esten als ihre Stadt.

Der alte Kern, die Hansestadt mit ihrer Stadtmauer und den Bürger- und Gildenhäusern, wurde seit den 60er Jahren restauriert. Von der „Oberstadt“, im Mittelalter vom Patriziat und der Aristokratie bewohnt, hat man einen guten Überblick. Von hier führen zwei Straßen, das „lange“ und das „kurze“ Bein, in die Unterstadt. In früheren Jahrhunderten riegelten die Handwerker und kleinen Händler mitunter die Oberstadt ab, um gegen Maßnahmen der Herrschenden vorzugehen.

Doch nicht nur diese Schokoladenseite des alten Tallinn ist heute noch zu besichtigen. Auch die schäbigen Holzhäuser des Viertels, wo die Arbeiter seit der Jahrhundertwende lebten, stehen noch weitgehend.

Edmund, mein Tallinner Führer will aber, bei allem Stolz auf die Stadt, mir vor allem die Umgebung zeigen. Auf der Küstenstraße fahren wir an dem großen muschelartigen Gebäude vorbei, in dem die beliebten estnischen Sängerfeste stattfinden. Für uns berühmt wurde es aber durch die riesigen Versammlungen von bis zu 150.000 Menschen (bei einer Gesamtbevölkerung von 1,5 Millionen), die 1988 zur Gründung der Volksfront führten.

Dann fährt und führt mich Edmund kreuz und quer durch den Wald, erzählt vom Skifahren im Winter und von Picknicks und Segeltouren im Sommer. Sein Traum ist ein Haus außerhalb der Stadt - ein typischer Traum, wie er mir versichert: die Stadt sei zwar wichtig, um Geld zu verdienen und wahrscheinlich auch für die Politik, aber das Leben, das ist die Familie und das eigene Haus auf dem Land.