Aufruhr des Geistes

■ Vor 100 Jahren wurde Walter Hasenclever geboren

Walter Hasenclever, einer der gefeierten und meistgespielten Autoren der zwanziger Jahre, steht beispielhaft für eine Vielzahl von Schriftstellern und Künstlern, deren Werke erst von den Nationalsozialisten verfemt und verbannt und nach der „Stunde Null“ noch einmal mit Vergeßlichkeit gestraft wurden.

Wer war dieser Vergessene, von dem Hermann Kesten sagte, daß er „mit einigen zwanzig Jahren so berühmt war wie der junge Hauptmann oder der junge Schiller“?

Als Sohn eines Arztes wird Walter Hasenclever am 8. Juli 1890 in Aachen geboren. Seine Kindheit leidet unter der übermächtigen Stellung des Familienvaters, dessen rücksichtslose Strenge an jene Demütigungen erinnert, wie sie Franz Kafka aus seinem Prager Elternhaus überliefert hat. Nach dem Abitur schickt ihn die Familie zum Jurastudium nach Oxford. Doch statt die Wissenschaft der Rechte studiert der als „bescheiden, fast schüchtern“, aber „mit viel natürlichem Charme“ geschilderte Hasenclever die Werke der Literatur. Er schreibt sein erstes Stück, Nirwana, eine „Kritik des Lebens in Dramaform„; das Geld für die Druckkosten gewinnt er beim Pokern.

Mit dem Wechsel an die Universität von Lausanne vollzieht sich der Bruch mit der Familie, da der Sohn die Jurisprudenz nun endgültig zugunsten eines Studiums der Literatur, Philosophie und Geschichte aufgibt. 1909 geht Hasenclever nach Leipzig, wo er rasch Anschluß an die studentisch -literarischen Zirkel findet, die wenig später die geistige Lawine des Expressionismus lostreten. Den bedrückenden Einflüssen seiner Herkunft entflohen, erlebt der knapp Zwanzigjährige die Großstadt als Befreiung: Mit seinen Freunden, Kurt Pinthus, Franz Werfel und dem Jung-Verleger Ernst Rowohlt genießt er die urbanen Verlockungen in vollen Zügen und schreibt, hart am Puls der maroden Kaiserzeit und inspiriert vom intellektuellen Flair seiner neuen Umgebung, die ersten von insgesamt fünf Gedichtbänden. Hasenclevers Lyrik - eine Auswahl bietet die 1919 von Kurt Pinthus herausgegebene und immer noch greifbare Anthologie Menschheitsdämmerung - verbindet das Pathos idealistischer Verkündigung mit dem Montagestil ineinandergleitender Bilder und hinausgeschleuderter Imperative, darin der Definition entsprechend, die Pinthus der neuen Bewegung gibt: „Expressionistisch - weil ganz Eruption, Explosion, Intensität.“

Im Kurt Wolff Verlag in Leipzig erscheint 1914 Hasenclevers Drama Der Sohn, wohl das wichtigstes Bühnenstück des „Revolutionärs mit schmerzendem Herzen“ (Kasimir Edschmid). Was hier als der am eigenen Leibe erlittene Vater-Sohn -Konflikt zur Sprache findet, wird zum Fanal einer ganzen Generation, die den Aufstand gegen die Sattheit und geistige Erstarrung ihrer wilhelminischen Väter probt. Als das Stück im Oktober 1916 - wegen der kaiserlichen Zensur hinter verschlossenen Türen - im Dresdener Albert-Theater zur Aufführung gelangt, macht es seinen Autor mit einem Schlag berühmt. Hasenclever selbst charakterisiert sein Bühnenwerk als einen „Aufruhr des Geistes gegen die Wirklichkeit“, allein dazu gemacht, „die Welt zu ändern“.

Bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges hatte sich der junge Dichter noch freiwillig an die Front gemeldet. Zunächst im Dolmetscherdienst, dann als Einkäufer und Küchenjunge wird er über die Schlachtfelder halb Europas gejagt. Zerrüttet von den Erlebnissen des Völkergemetzels gelingt es ihm nach der Sohn-Premiere mit Hilfe eines befreundeten Mediziners, felduntauglich geschrieben und in ein Militärsanatorium bei Dresden eingewiesen zu werden. Während des einjährigen Klinikaufenthalts entsteht die Anti -Kriegstragödie Antigone, eine zeitgemäße Adaption des Sophokles-Stoffes, mit der - so Hasenclever - „das Gewissen des Schriftstellers gegen Krieg und Vergewaltigung protestierte.“ Antigone erhält 1917 den angesehenen Kleist-Preis.

Obwohl er von der Notwendigkeit einer sozialistischen Gesellschaftsordnung überzeugt war, erkannte Hasenclever schon 1917 „die Unmöglichkeit, in Deutschland politische Ideale zu verwirklichen.“ Enttäuscht von der in Agonie befindlichen Bewegung des Expressionismus wandte er sich den Lehren des Buddhismus zu und begann die umfangreichen theosophischen Schriften Emanuel Swedenborgs zu übersetzen. Möglicherweise wäre Hasenclever in Mystik und Metaphysik versunken, hätte ihn das Berliner '8-Uhr-Abendblatt‘ nicht 1924 als Korrespondenten nach Paris geschickt. „Hier“, notierte er rückblickend, „lernte ich die Dinge von der anderen Seite kennen.“ Die heitere Eleganz der Seine -Metropole, das „savoir-vivre“ ihrer Menschen stimulierten ihn zu einer neuen Schaffensperiode: Neben zahllosen journalistischen Arbeiten, die das Pariser Kultur- und Alltagsleben kaleidoskopartig bespiegeln, entstand unter dem Eindruck des französischen Theaters eine Reihe von zeitkritischen, überaus erfolgreichen Komödien (Ein besserer Herr, 1926; Ehen werden im Himmel geschlossen, 1928; Napoleon greift ein, 1930). „Ich finde“, so äußerte Hasenclever in einem Radiodialog über sein gewandeltes Kunstverständnis, „daß soziale Kritik auf dem Theater viel stärker wirkt, wenn die Mißstände, die man bekämpfen will, lächerlich gemacht werden. Auch die Komödie ist eine Weltanschauung.“

Die Weltanschauung, die sich derweil in Deutschland durchsetzt, ist alles andere als komödiantisch. Als die Nazis 1933 ihr Schauerspiel zu inszenieren beginnen, gehört Hasenclever, inzwischen wieder in Berlin, zu den ersten, die Publikations- und Aufführungsverbot erhalten; 1934 wird er ausgebürgert.

Die letzten Lebensjahre werden zur Odyssee eines Verfolgten, Zuflucht findet Hasenclever zunächst bei seinem

-ebenfalls emigrierten - Verleger Kurt Wolff in Nizza, wo er seine Lebensgefährtin kennenlernt. Mit ihr erwirbt er ein kleines Landgut in der Toskana. Doch die Hoffnung, hier in Ruhe arbeiten zu können, zerschlägt sich, als Hitler im April 1938 Mussolini in Italien besucht und Hasenclever vorübergehend festgenommen wird. Aus Furcht, jederzeit der Gestapo in die Hände fallen zu können, flieht er mit gefälschten Pässen nach London, von dort wieder zurück an die französische Riviera, wo er seine letzten literarischen Arbeiten verfaßt: die (umstrittene) Komödie Konflikt in Assyrien, eine bittere Verspottung des nationalsozialistischen Regimes, die den Massenmord an den Juden indes auf allzu leichtfertige, eben komisch -schwankhafte Weise vorwegnimmt, sodann den autobiographischen Roman Irrtum und Leidenschaft und nach zweimaliger Internierung aufgrund des Kriegsausbruchs das Romanmanuskript Die Rechtlosen, das die Situation der deutschen Emigranten in Südfrankreich und die Zustände im Internierungslager schildert.

Mit dem Vormarsch der Hitler-Truppen in Frankreich muß Hasenclever in das Lager Les Milles bei Aix-en-Provence einrücken. Als der rettende Eisenbahnzug, der die Gefangenen zur spanischen Grenze transportieren soll, nicht eintrifft, nimmt Hasenclever Veronal. Er stirbt am 21. Juni 1940. Der Zug, der nur Verspätung hatte, bringt seine Mitgefangenen am gleichen Tag noch in den Süden.

Michael Kohtes