Mamma darf sich irren

■ „Die Töchter der Emanzen“ - eine Tagung in Berlin / Frauen suchen den pragmatischen Konsens, passe ist der Streit um die eine Wahrheit Die theoretische Begründung lieferte eine US-amerikanische Übermutter / Catherine Stimpson plädierte für die Politik des Unterschieds

Von Christel Dormagen

Ihr habt sehr hohe Ansprüche“, sagte eine der Mütter, „woher kommen die?“ „Im ersten Augenblick war ich atemlos, hatte Angst, ihr ward mir fremd. Nach dem Kennenlernen aber wurde ich stolz auf euch Töchter“, bekannte eine andere. „Nehmt uns nicht so ernst und geht euren eigenen Weg!“ empfahl eine dritte.

Da saßen also am dritten Tag des Frauenseminars Die Töchter der Emanzen, zu dem die Berliner Heimvolkshochschule Glienicke eingeladen hatte, die Mütter und die Töchter einander gegenüber. Das heißt, sie saßen nicht einfach nur so, sondern waren von den Seminarleiterinnen aufgefordert worden, zwei frontal aufgestellte leere Stuhlreihen so zu besetzen, wie es nach den gemeinsamen Arbeitstagen ihrem Gefühl entspreche. Die Sitzordnung geriet dann etwa fity-fifty „Mütter“ und „Töchter“ plus drei, vier Frauen, die keine Lust auf selbstproduzierten Zwang hatten und sich danebensetzten: Wir sind weder das eine ganz und immer noch das andere.

Und das mit dem Einander-die-Meinung-Sagen ist - unter Frauen, wie wir wissen - auch so eine Sache. Mütter sind schon mal qua Rolle edler als die Töchter, und Kritik formulierten sie eher zart.

Der Mangel an Schärfe wurde denn auch, als nach der Mütterrunde im Rollenspiel die Töchter reden durften, prompt eingeklagt: „Auch wenn das Lob schmeichelhaft für uns ist, wo bleibt die Kritik?“ Eine andere fragte: „Warum entzieht ihr euch so? Ihr lehnt euch zurück und sagt: die machen schon. Das gefällt mir nicht. Mir fehlt der Kontakt zu den Müttern. Ich möchte meine Vorkämpferin erkennen können.“ Sehr entschieden dagegen äußerte sich eine widerspenstige Tochter: „Ich möchte absolut keine Hoffnungsträgerin sein!“ Es gab aber auch die brave Tochter, die sich zwar eingeschüchtert fühlte durch die Power-Mütter, aber doch auch ermutigt: „Vielleicht kann ich das ja auch.“ Und schließlich auch noch die pri ma Bilderbuch-Bewegungstochter: „Wir haben ein gemeinsames Ziel: die Gleichberechtigung. Die erste Etappe habt ihr geschafft. Mit der nächsten sind wir dran.“

Ideologische Bande

statt Blutsbande

Dieser höchst zivile Umgangston machte endgültig deutlich, daß da keine Blutsbande versammelt war, sondern allenfalls eine ideologische Bande: die erste und die zweite Generation der Frauenbewegung. Unter leibhaftigen Blutsverhältnissen hätte ich zum Beispiel unbedingt und heftig den Tochterstuhl beansprucht: Ich gehöre zu den Neuen, den Nachrückerinnen, und wir machen alles anders als ihr Alten! Bewegungslogisch dagegen habe ich mich gerne auf den Mütterstuhl gesetzt: Wir waren die ersten! Mit uns hat alles angefangen. Die Wahrheit besitzen wir!

Und darum ging es an diesem Wochenende in Glienicke, kaum ein paar hundert Schritte von jenem neudeutschen Bedeutsamkeitsträger, der wiedereröffneten Glienicker Brük ke, entfernt. Es ging um den Besitz der Wahrheit oder besser darum, ob es denn die eine für alle immer noch gibt. Kontinuität und Generationskonflikt in der neuen Frauenbewegung hieß der Untertitel der Tagung. Und was ist herausgekommen? Eben das, was am Schluß in jenem Stühlespiel zelebriert wurde: Man muß miteinander reden. Und man kann es auch. Kontinuität statt Konflikt. Das war pragmatischer Konsens und als solcher, unter anständigen Frauen, die sich freiwillig und interessiert versammelt haben, nicht eben erschütternd. Den Unterschied machte die neue theoretische Fundierung dieses Umgangs.

Dazu hatte man je eine Repräsentation der (amerikanischen) Müttergeneration und der (deutschen) Töchtergeneration eingeladen. Den Anfang machte eine gewaltige amerikanische Mutter. Catharine Stimpson ist das, was man eine Feministin der erten Stunde nennt; eine, die schon in den sechziger Jahren, unter anderem zusammen mit Kate Millet, aktiv war. Sie hat später die feministische Kulturzeitschrift 'Signs‘ gegründet und sieben Jahre lang herausgegeben, sie ist Mutter von vier erwachsenen Kindern und lehrt jetzt englische Literatur an der Rutgers-Universität, New Brunswick. Und sie kann reden. Sie kennt alle amerikanischen Tricks unterhaltsamer Rhetorik, scheut weder Kalauer noch Didaktik, schon gar nicht die selbstbewußte Koketterie. Und sie ist klug dabei.

Als Ersttagsfeministin, die quasi mit doppelten Töchtern spricht, denen des europäischen Tochterlandes und denen der jüngeren Generation, unternahm Stimpson in ihrem Vortrag das, was einer Bewegung ansteht, die - nach einer ersten Phase heftiger unreflektierter Handlungsselbstgewißheit nicht mehr sicher ist, ob sie sich bewegt und, wenn ja, wohin. Stimpson hielt inne, schaute zurück und ordnete das Geschehene, um den derzeitigen feministischen Denk- und Standort genauer einzukreisen. Immerhin wird auch die Neue Frauenbewegung nun schon bald dreißig Jahre alt, der Unterschied zwischen den Denkgebräuchen von heute und denen der Anfänge ist offenkundig. Und er ist nicht zufällig, so Stimpsons Überzeugung.

Sie begann ihr Referat mit einem Knaller, der mir aber, bezeichnenderweise, erst im nachhinein als solcher bewußt wurde: „Alle Frauen sind verschieden, und deshalb gibt es den einen Feminismus nicht!“ Noch vor wenigen Jahren hätte der alle einigende Satz das Gegenteil behauptet: Alle Frauen sind gleich! Doch die Zeiten der einen „master narrative“ sind vorbei. Das ist eine schöne Metapher, die sich nur unzulänglich übersetzen läßt: Es gibt nicht mehr die eine, kräfte- und aktionsbündelnde, mono-logische beziehungsweise

-kausale Leittheorie.

Was den derzeitigen Stand der Bewegung wie auch der feministischen Theorieangebote kennzeichne, seien „Unterschiede und Vielfältigkeiten“ („differences and diversities“). Und so sei ihr Lieblingswort zur Zeit auch „herterogeneity“ - ein etwas gräßlicher Neologismus in Anlehnung an Heterogenität. Ungleichartigkeit; aber die Amerikanerinnen mögen solche weiblichen Sprachaneignungen wie etwa auch „history“ und „herstory“.

Es lebe

der Unterschied

Vielfalt, um nicht zu sagen: Pluralismus ist also angesagt und damit auch ein ganz neuer Umgang mit Theorie. In der ersten Phase feministischer Bewegung waren Theorie und Praxis noch ungeschieden wie im Paradies; die Dinge schienen klar; Fühlen, Denken und Handeln waren identisch - so scheint es zumindest dem wehmütig-verklärenden Rückblick. Eine Logik galt für alle: Wir sind alle Schwestern, wir sind alle Opfer. Wir sind alle gut. Wenn man uns ließe, käme die ganze Welt in Ordnung. Dieses geschlossene System einer totalisierenden Unterdrückungsapodiktik verlieh die Kraft zum gemeinsamen Handeln.

Allmählich ließ sich dann aber nicht mehr übersehen, so Stimpson, daß doch nicht alle Frauen des Globus sich mit derselben Theorie helfen lassen wollten. Es gab und gibt die Lesben, die schwarzen Frauen der USA, die der sogenannten Dritten Welt und die der sozialistischen Länder (a.D.), die sich nicht widerspruchlos - im praktischen wie im theoretischen Sinne - unter dem westlichen Feminismusbegriff subsumieren lassen wollen. Und während zu jener Zeit der inneren Auseinandersetzungen und -differenzierungen die Massenmedien die neue „master narrative“ in die Welt setzten: der Feminismus ist tot!, entdeckten die Frauen ihre Unterschiedlichkeit als neues Denkmodell.

Die schwarze Schriftstellerin Audrey Lorde war in den USA eine der ersten, die die Berücksichtigung unterschiedlicher Voraussetzungen forderte: und die weiße Amerikanerin Adrienne Rich prägte die Formel für diese neue Erkenntnis: „politics of location“: Nur wenn wir unseren jeweiligen konkreten Ort - Herkunft, Zusammenhang, Interessen etc. analysieren, können wir die entsprechenden Mittel und Wege zur Verbesserung unserer je spezifischen Lage finden. Die Polarisierung: Mann-Frau hatte blind gemacht für die Unterschiede unter den Frauen selbst. Und das starre Schema von Rasse-Klasse-Geschlecht reichte schon längst nicht mehr hin.

Das führte dann während der achtziger Jahre in den USA, und nicht nur dort, dazu, daß die Frauen begannen, die Beschaffenheit und die Möglichkeiten von Theorie überhaupt infrage zu stellen. Und sie machten sich dabei postmoderne Diskurskritik zu eigen: Es gibt keine herrschaftsfreie Rede, und wer die Sprache hat, hat die Macht. Die extremste Position innerhalb dieser Grundlagendiskussion nimmt - aus Stimpsons Sicht - Mary Daly ein: Männer haben das Definitionsmonopol. Und in der Folge galt Theorie als solche als männliche Falle.

Catharine Stimpson ist da gelassener, pragmatischer. Sie mißtraut jedem theoretischen Konzept mit Alleinerklärungsanspruch: Sie setzt vielmehr wie auf die Verschiedenheit der Frauen so auf die Vielfältigkeit ihrer Diskurse, ohne zu unterschlagen, daß gemeinsame Strategien da schwierig werden, wo sie nicht mehr wie von selbst aus der einen „natürlichen“ Theorie herauswachsen.

Verbraucherinnen-Test für Theorie

Trotzdem, das sagte sie abschließend ganz ausdrücklich, liegt ihre Hoffnung in der Pluralität. Denn: ein pluralistischer Feminismus bietet wenig Angriffsfläche für Feindbildprodukton: offene Theorien machen es leichter, auf neue Tagesprobleme flexible Antworten zu finden: sie geben die Möglichkeit, überhaupt in den politischen Handlungsbereich einzugreifen. Und - in allerschönstem praktischen Muttersinn - stellte Stimpson den Töchtern noch einen kleinen Verbraucherinnen-Test zur Verfügung: Man prüft die Tauglichkeit einer Theorie, indem man ihr zwei Fragen stellt. Erstens: Wie versteht sie ein(e) Nichttheoretiker(in)? Zweitens: Was leistet sie für unser Überleben? Den Tauglichkeitstest für spezifisch feministische Theorien erwähnte sie dabei nunmehr nebenbei: eine solche Theorie hat die Emanzipation zu befördern. Und deren Voraussetzung, so Stimpson, sei Bewußtsein. Mit diesem nun allerdings ganz und gar tautologischen Zirkelschluß entließ sie ihre begeisterten Zuhörerinnen.

Wenn man nun - gewissermaßen schwanzbeißerisch (nicht wie Sie denken, meine Herren, von Ihnen ist einmal nicht die Rede) - Stimpsons Theorie auf sie selbst anwendet, so ist es in der Tat so, daß Stimpson die „politics of location“ auch auf die Bewegung bezieht: Indem sie Herkunft und Geschichte des Feminismus beschreibt, nimmt sie eine politische Orts und Zielbestimmung vor. Der Mythos des einen Grundes wird erkannt und so gebrochen, aber nicht durch einen neuen ersetzt. Und ihr eigenes Angebot kann da wieder nur eines unter möglichen vielen sein. Daß am Schluß die strategische Handlungsanweisung fehlt, ist insofern nicht eine Schwäche der Theorie, sondern gerade ihre Stärke. Keine Theorie wird vernünftigerweise von sich beanspruchen wollen, sie impliziere logisch ableitbares praktisches Handeln. Und auch eine feministische wird da zurückhaltend sein müssen, wie immer subjektzentriert sie sich auch versteht.

Die Brücke zum zweiten Vortrag bildete eben das von Stimpson propagierte Prinzip der Vielheiten. Eva Koch -Klenske, Berliner Uni-Soziologin und Politologin, hatte die Differenz als produktive Kraft im Sinn: Gleichheit lähmt. Und starke einzelne Frauen sollten statt als Bedrohung lieber als Ermutigung, Stütze und Versprechen begriffen werden. Dabei spielte sie auf die Praxis des „Affidamento“ an, des gegenseitigen Anvertrauens - jener Theorie, die Mailänder Frauenbuchladenfrauen 1988 entwickelt haben und die in der deutschen Frauenszene eher unwirsch aufgenommen wurde.

Das Fehlen der symbolischen Mutter

Der Vielheit der ungleichen Frauen entspricht die Vielfalt der Rede. Es gibt keine Eindeutigkeiten mehr, keinen Königinnenweg der feministischen Tat. Die Handlungs-, Verhaltens- und auch Denkunsicherheit von Frauen hat - und da verfährt Koch-Klenske fast fundamentalistisch im Unterschied zu ihrer amerikanischen Kollegin - eine entscheidende Ursache: den Mangel an symbolischer Repräsentanz des Weiblichen. Es fehle die symbolische Mutter als positive Imago für uns konkrete Frauen. Deshalb forderte sie dann auch ungedingte politische Autonomie für Frauen, da die politischen Institutionen qua Struktur das weibliche Prinzip ausschlössen. (Autonomie hat im Amerikanischen allerdings eine ganz andere Bedeutung: der Begriff meint da nicht antiinstitutionellen Widerstand, sondern ist selber institutionell verbrieft, da jede(r) Amerikaner(in) sich qua Verfassung als autonom versteht.)

An diesem Punkt tat sich, eher beiläufig, doch ein ganz entscheidender Unterschied zwischen den Positionen beider Referentinnen auf. Während Koch-Klenske von der essentiellen Differenz der Geschlechter ausgeht, hat Stimpson damit nichts im Sinn: Unterschiede sind für sie nur je konkret, nie wesenhaft.

Dadurch, daß beide aber ihre Handlungsanweisungen so allgemein formulierten, wurde diese Differenz eher zugedeckt. In Anerkennung der Unterschiede und Vielheiten, so befanden beide, müssen sämtliche Formen des Handelns erlaubt und möglich sein, und jede einzelne Frau muß sich selber als „indispensible“ wissen, was im Deutschen „unverzichtbar“ heißt und leider schrecklich nach Oder-Neiße -Grenze und deutschen Ostgebieten klingt; es meint aber, jede einzelne Frau mit ihrer besonderen Erfahrung ist gefordert und notwendig.

Nicht nur aus Zeitgründen vermochte die anschließende Diskussion den Konsequenzen der entwickelten Thesen kaum mehr nachzugehen. Sie wäre unvermeidlich wieder an dem, bundesrepublikanischen Frauen so bekannten, Punkt angelangt, wo die beiden philosophischen Grundpositionen innerhalb der Feminismusdebatte - die von der Gleichheit respektive Andersheit der Geschlechter - sich eben nicht mehr vermitteln lassen. Der Unterschied zwischen eher absolutem und eher pragmatischem Denken wurde übrigens an einem kleinen Disput über das Wort subversiv deutlich: Für uns Deutsche ist Subversivität grundsätzlich eine Qualität, während die Amerikanerin, auch da ihrem Prinzip der Relativierung verpflichtet, sagte: je nach Situation, in der ich mich befinde, bin ich mal konservativ und mal subversiv.

Frauen werden älter, Frauen werden radikaler

Um Polarisierungen aber sollte es auf dem Mütter-Töchter -Seminar auch nicht gehen, vielmehr um die, nicht essentiell gefaßte, Gleichheit bzw. Andersheit der Generationen. Und da waren sich Referentinnen wie Teilnehmerinnen einig: Miteinander reden wollte man, einander zuhören und herausfordern. Oder, wie Koch-Klenske es formulierte: „Was wir brauchen, ist eine neue Dialogkultur, in der es nicht um Streit und nicht um Harmonisierung geht, sondern um Versöhnung.“

Das ist schön und wärmend gedacht. Wie sich allerdings auf diese Weise praktisch, menschlich, würdig und frauenfreundlich unsere Schwierigkeiten mit etwa der Euthanasiefrage oder der Gentechnologie lösen lassen, wird sich nur je konkret herausstellen. Feministische Meßlatten gibt es nicht. Aber es ist immerhin ein Fortschritt, wenn es denn einen Fortschritt der Vernunft gibt, um den Unterschied zwischen einer Theorie der Vielheiten und einer beliebigen Befindlichkeit zu wissen. Die eine ist Ergebnis eines Bewußtseinsaktes, die andere naturwüchsig.

Sollten wir uns aber praktisch doch überfordert fühlen durch so viel Differenzbereitschaftspflicht, dann können wir europäischen Frauen uns unsere privilegierte Situation ganz altmodisch familienbandenmäßig zunutze machen: unbotmäßige Töchter können wir sein, unseren amerikanischen Müttern gegenüber, die immer diesen einen Schritt voraus sind. Und ein weites Betätigungsfeld für Muttersüchtige hat sich unlängst hinter der Nicht-mehr-Mauer aufgetan: da wartet jede Menge Töchter auf uns; oder vielmehr, sie warten vermutlich ganz und gar nicht auf Bemutterung. Eine schlug dann auch am Schluß, gewissermaßen zur Entspannung, das Modell: kleine und große Schwester statt: Mütter und Töchter vor.

Ich für mein Teil setze nach dieser Tagung am liebsten auf den Satz einer Teilnehmerin. „Bei Männern ist Jungsein ein Synonym für Radikalsein. Frauen werden radikaler, je älter sie werden.“ Und dabei ist es mir gleichgültig, ob der Satz der Geschlechterdifferenztheorie verpflichtet ist. Sie hat ihn schlicht mit ihrer Erfahrung begründet. Und ich wäre, in praktischer Generationen-Soloversöhnung, meine eigene Hoffnungsträgerin.