Dynamik des Sonderabfalls

■ Anhörung im Stuttgarter Landtag / Umweltbundesamt beklagt „Begleitscheinwaschanlagen“ und fehlende Vermeidungsstrategien

Aus Stuttgart Erwin Single

„Hier herrscht der Markt und nicht die Umwelt.“ Zehn Jahre „leidvolle Erfahrungen“ bei der Vermeidung, Verwertung und Entsorgung von Giftmüll haben Hans Sutter in manchen Punkten skeptisch werden lassen. Der wissenschaftliche Direktor für industrielle Abfallwirtschaft des Umweltbundesamtes (UBA) mußte immer wieder feststellen, daß der Sondermüll dorthin wandert, „wo es am billigsten ist“. Und er mußte erkennen, daß es eine „große Dynamik“ im „Verschieben“ der giftigen Industrieabfälle gibt. „Dagegen haben Vermeidungs- und Verwertungsmaßnahmen kaum eine Chance.“

Bisher hat die Bundesrepublik rund eine Million Tonnen Sonderabfälle jährlich in den realsozialistischen Nachbarstaat DDR verschachert; das sind etwa 20 Prozent des anfallenden Giftmülls. Dem Abfallexperten geht es insbesondere um die unübersehbaren Mengen des als „Hausmüll“ oder als „Wirtschaftsgut“ kaschierten Sondermülls, deren Spuren sich hauptsächlich auf einfachen Deponien oder in Zementwerken und Verfeuerungsanlagen westeuropäischer Anreiner verlieren.

Wie das funktioniert, legte Sutter in einer Anhörung der interfraktionellen Arbeitsguppe „Sondermüll“ im Stuttgarter Landtag am Beispiel von Lackschlämmen dar: 1985 seien nach einer UBA-Auswertung offizieller Begleitscheine 1,1 der 1,2 Millionen Tonnen Farbabfälle in chemisch-physikalische Behandlungsanstalten gewandert, wo sie laut Sutter „gar nicht behandelt werden konnten oder können“. Dort wurden dann Sägemehl oder andere brennbare Stoffe beigemischt, um einen entsprechenden Heizwert zu erreichen, damit das „wilde Gemisch von Abfällen“ anschließend als Heizmaterial zur Entsorgung in ausländische Zementwerke geschickt werden kann. Was dort verfeuert wird, läßt sich nicht mehr feststellen. Der Weg über solche „Begleitscheinwaschanlagen“ werde benuzt, „um Abfälle umzudeklarieren, damit sie billiger zu entsorgen sind“, sagt Sutter. Bei den hierzulande als Sandfangrückstände deklarierten Mengen müßten wir fast „in einem Wüstenstaat leben“, fügte er ironisch hinzu.

Verdreifachung des Sondermülls erwartet

Von der direkten Einwirkung auf die Abfallerzeuger wird jedoch kaum Gebrauch gemacht. Auch eine rigide Auslegung des Chemikaliengesetzes könnte sich bei Produkten, bei deren Herstellung und Verwendung gefährliche Stoffe anfallen, durch Produktionsverbote oder Auflagen positiv auf die Vermeidungsquote auswirken. Unter dem hohen öffentlichen Erwartungsdruck wird die Diskrepanz zwischen immer neuen umweltpolitischen Ankündigungen und den Vollzugsproblemen immer größer.

Die TA Abfall, die im Herbst in Kraft tretenden Vorschrift zum geltenden Abfallgesetz, soll über Nachweispflichten und Überwachung mehr Licht in die dunklen Sonderabfallströme bringen. Doch das detaiillierte Regelwerk ist „beseitigungsorientiert“ und setzt bei der Entsorgung und nicht bei der Vermeidung an, räumt Sutter ein.

Die Wirtschaft, die durch die Vorschrift Wettbewerbsnachteile befürchtet, stöhnt bereits über die auf sie zukommenden Formularflut, Genehmigungen, Nachweise und Kontrollen. Und die überwachenden Behörden können gleich abwinken; sie sind - nach eigener Einschätzung - schon jetzt heilos übefordert.

Streng nach den Paragraphen darf Sondermüll erst dann ins Feuer geschickt werden, wenn er sich nicht vermeiden läßt. Rund 700.000 Tonnen Giftmüll stehen derzeit jährlich zur Verbrennung an. Nach der TA Abfall werden statt bislang 90 künftig an über 300 Reststoffe besondere Anforderungen bei der Beseitigung gestellt. Logische Konsequenz: das Sondermüllvolumen wird zunehmen; Schätzungen zufolge bis zu zwei Millionen Tonnen jährlich.