Ein deutsches Parlament auf Abruf

■ Zielstrebig arbeitet die Volkskammer ihrer Auflösung entgegen

Aus Berlin Petra Bornhöft

Der Abgeordnete Peter Thietz ist ein ruhiger Mann. Stundenlang sitzt der stellvertretende Ost-FDP-Chef in der hinteren Mitte der Volkskammer. Schweigend, regungslos, gelegentlich in Papierbergen blätternd. „Bewußter als im Parlament“, meint der 56jährige Patentingenieur, „kann man den Prozeß der deutschen Einheit nicht miterleben“. Waren es früher Familie, Kleingarten und Klavierunterricht, die nach Feierabend sein geregeltes Leben bestimmten, so ist es jetzt „das Gemeinwohl Deutschlands, das man stets im Auge behalten muß“. Eigene Auflösung und vorausgehende Entmachtung betreibt die Volkskammer in einem nicht zu überbietenden Tempo. „Uns bleibt kaum Zeit zum Luft holen“, klagt die stellvertretende SPD-Vorsitzende Angelika Barbe. Und die Zeit zum Nachdenken?

Sie scheint mehr als knapp bemessen. Oft bemerkt das Parlament durch puren Zufall, daß der Ministerrat nicht nur einen harmlosen Papierberg ausgestoßen, sondern zielstrebig die Volkskammer ausgetrickst hat. Dann bricht das Chaos aus, wie in der letzten Woche. In einer persönlichen Erklärung teilt ein Liberaler mit, wie Minister Steinberg (CDU) die DDR-Energiebetriebe per Anordnung den BRD-Stromgiganten zugeschustert hat. Wohl wissend, daß die Volkskammer etwas ganz anderes beschlossen hatte, stellt sich der Herbeizitierte doof, sein Staatssekretär nicht minder. Schreie, Gelächter, Fingerschnippen, vier Geschäftsordnungsanträge an drei Mikrophonen - der Tagungspräsident rauft sich die Haare: Eine persönliche Erklärung darf nicht diskutiert werden. Im lärmenden Tohuwabohu hat der Abgeordnete Konrad Weiß die rettende Idee. Punkt 18.05 Uhr beantragt er sofortigen Schluß der 19. Tagung der Volkskammer und die Einberufung des 20. Meetings für 18.10 Uhr. Unter brüllendem Gelächter stimmt die Volkskammer zu. Ihre folgende Sitzung dauert exakt vier Minuten: Eine neue Arbeitsgruppe wird beim nächsten Mal über die „Lage im Energiesektor“ berichten.

Es sind ja bekanntlich die parlamentarischen Ausschüsse, in denen nicht nur nach Ansicht des Abgeordneten Thietz „die eigentliche Arbeit geleistet wird“. Er selbst ist Mitglied des Rechtsausschusses, in dem vom Schornsteinfegergesetz bis zum Staatsvertrag nahezu alle der über 100 Anträge und Gesetze behandelt werden. Thietz‘ Leidenschaft gehört eher der Außenpolitik inclusive deutscher Einheit, „aber als Patentingenieur komme ich ja irgendwie aus dem Rechtsgebiet und deshalb sitze ich nun im Rechtsausschuß“. Ein Thema, das Patentgesetz, „hab ich fast allein bearbeitet, denn da war ich ja in meinem Element“. Ansonsten hilft ihm bei der Bewältigung der gigantischen Materialfülle „der Sinn für das Wesentliche und Machbare“. Manche Abgeordnete, wie Ibrahim Böhme (SPD), lesen angeblich zwölf Stunden am Tag - und trotzdem überschaut Böhme „oft nicht die Konsequenzen dessen, worüber ich abstimmen soll“. Wer von den parlamentarischen Amateuren sollte das auch schaffen?

Niemand. Es ist unmöglich. Erstaunlich indes, wie schnell PolitikerInnen aller Fraktionen gelernt haben, an die Stelle eigener Kompetenz einen grenzenlosen Pragmatismus und das Vertrauen auf „Experten“ zu setzen - und daran ebenso Gefallen zu finden wie an den neuen Freifahrtscheinen der Bundesbahn. Vielleicht muß man aus der (minimalen) Distanz eines Fraktionsmitarbeiters ohne Parlamentssessel agieren, um zu bemerken, „daß die westdeutschen Mitarbeiterstäbe des Ministerrates die Gesetze machen und sich DDRler nur für die Transformation auf den DDR-Duktus heranholen“, so Wolfgang Templin vom Bündnis 90; „die überfordern Parlament und Regierung gleichermaßen“. Demgegenüber ist Peter Thietz der festen Überzeugung, daß etwa „im Rechtsausschuß um jeden Satz gekämpft wird“. Und wenn abends mangels Präsenz aller CDUler und Liberalen „marktwirtschaftlich bedenkliche Dinge in ein Gesetz formuliert werden, dann korrigieren wir das durch einen Änderungsantrag in der Volkskammer“. Überfordert fühlen sich weder Peter Thietz noch seine Ausschußkollegin Luise Morgenstern (SPD). Im Gegenteil, die 58jährige Hausfrau - „ich hab immer nur oppositionell gedacht und im Wohnzimmer die Welt auseinandergenommen und wieder zusammengesetzt“ - ist „erstaunt darüber, wieviel man in meinem Alter noch lernen kann“. Getreu ihrem Motto „jetzt krempelst du die Ärmel auf und mischst mit“ wirbelt Luise Morgenstern in drei verschiedenen Ausschüssen. Ihr resolutes Auftreten verschafft Respekt. Die Fraktion hat sie in den Ausschuß geschickt - mit dem Argument: „Wir brauchen da auch Leute mit normalem Menschenverstand„; jetzt freut sich die Köpenicker Hausfrau über die mittlerweile gezollte Anerkennung.

Und sie zieht ein Fazit: „Wenn es hier bald vorbei ist, kann ich nicht einfach wieder als Hausfrau agieren“. Ob Luise Morgenstern ein Mandat im ersten gesamtdeutschen Parlament anstrebt, verrät sie allerdings nicht. Die Herren der Schöpfung machen in der Regel keinen Hehl aus ihren Ambitionen. In der „Pausenversorgung“ - das ist der Raum vor einer Theke mit marktwirtschaftlicher Preisexplosion und mittäglichem Senf-Mangel - ist die Zukunftssicherung der Parlamentarier regelmäßig Gesprächsthema. Nicht jeder hat ausgesorgt, wie die Familie des Außenministers Meckel: Bruder und Cousin nebst Freundin hocken auf Schlüsselpositionen in der Meckel-Behörde. Unter den Abgeordneten wird heftig getuschelt, wer in welchen Aufsichtsräten Platz findet. Manche Lehrer und Ärzte gehen in weiser Voraussicht ihrem alten Beruf nach. Diejenigen, die wie SPD-Genosse Frank Bogisch (34) aufgrund diverser Partei- und Parlamentsfunktionen „nicht das letzte Glied in der Kommunikationsstrecke sind“, glauben, berechtigte Hoffnungen auf eine „Perspektive als Berufspolitiker“ zu haben. Bogisch wird „für den Bundestag und Parteivorstand kandidieren“. Wer sich dort keine Chancen ausrechnet, spekuliert auf die Länderparlamente. Der Run auf diese Posten ist so heftig, daß ein Abgeordneter bereits jetzt prophezeit: „Nach den Landtagswahlen wird die Volkskammer ziemlich leer sein. Da will dann doch niemand mehr nachrücken für die zwei Monate“. Einer bleibt mit Sicherheit bis zum Schluß: Peter Thietz. Er möchte zwar „verantwortlich in der vereinigten FDP arbeiten. Aber dort wird das Gedränge sehr groß sein“. Sein Ziel: „Der Sprung in den Bundestag wäre die Krönung meines Lebens“.