Gorbatschow sammelt Pluspunkte

■ Delegierte auf dem Parteitag der KPdSU diskutieren in Fachgruppen / Nach Treffen Gorbatschows mit Sekretären der Gebiets- und Stadtkomitees nimmt Widerstand gegen seine Wiederwahl angeblich ab

Aus Moskau K.-H. Donath

„Wir sprechen nur über einen Anwärter auf den höchsten Posten in der Kommunistischen Partei, und das ist Michail Gorbatschow“, verkündete Alfred Rubiks, Mitglied des Präsidiums des Parteitages. Auch der 'Prawda‘ war gestern zu entnehmen, daß es dem Generalsekretär gelungen sein muß, die Vorbehalte gegenüber seiner Kandidatur bei der Mehrheit der Delegierten abzuschwächen.

Vorausgegangen war dem ein Treffen Gorbatschows mit den Ersten Sekretären der Gebiets- und Stadtkomitees der KPdSU. Beide Seiten, schreibt das Parteiblatt, seien sich darüber einig gewesen, daß diese Basen der Partei gestärkt werden müßten. Die Liquidierung dieser Strukturen bedeutete faktisch eine Liquidierung der Partei. Wohl stellvertretend für die Mehrheit der Funktionäre zitiert 'Prawda‘ den Sekretär Gregorjewitsch zur Metamorphose der Kongreßteilnehmer: „Als die Delegierten nach Moskau kamen, waren die meisten von ihnen gegen eine Verbindung der beiden höchsten Ämter. Im Laufe der Diskussion und besonders nach dem Treffen mit Michail Gorbatschow, scheint mir, hat die Mehrheit der Vertreter ihre Ansicht darüber geändert.“

Parallel dazu trafen sich die Delegierten in sieben vom Kongreß eingerichteten Arbeitsgruppen, die sich u.a. mit Fragen der Erneuerung der Partei, Ideologie, Nationalitätenpolitik, internationale Politik und Verhältnis der KPdSU zu anderen gesellschaftlichen Institutionen und Bewegungen befaßten. Die Sitzungen fanden unter Ausschluß der Presse statt.

Größten Zuspruch fand die Arbeitsgruppe „Erneuerung der Partei“, an der sich 1.200 Delegierte beteiligten. Boris Pugo berichtete über die Arbeit der Kommission, die sich mit der Stalinzeit befaßt. Ein „Abgrund an Horror“ hätte sich da aufgetan. „Nein, Genossen, das waren keine Fehler. Das waren schwere Sünden unserer Geschichte, die uns nicht vergeben werden, bis dem letzten Opfer Gerechtigkeit widerfahren ist.“ Pugo beklagte den Widerstand auf lokaler Ebene. Entscheidungen der Kommission, die Opfer zu rehabilitieren, stießen dort sehr oft auf Widerstand. Sein Resümee: „Wir sind davon überzeugt, der Bazillus des 'Alles-ist-möglich‘ und der Willkür hat jeden Winkel der Partei infiziert.“

Geschäftsmäßig verlief die Diskussion ausgerechnet in der Sektion Ideologie, die leitmotivisch der Frage nachging: Was muß geschehen, damit die KP auch unter den Bedingungen eines Mehrparteiensystems eine politische Kraft bleibt? Zündende Antworten waren dem Referat leider nicht zu entnehmen. Stürmisch ging es im Bereich „Nationalitätenpolitik“ und „Internationales“ her. Die Bandbreite der Meinungen rangierte von der Forderung, „einen Schuß mit zwei beantworten“ bis zur Mitgliedschaft aller Republiken in den UN. Kritik an Gorbatschow wurde laut, weil er durch seine Abwesenheit wieder einmal unterstrich, daß er diesem Thema nur geringe Aufmerksamkeit schenkt. Grundsätzlich wurde dem Politbüro Versagen vorgeworfen, weil es zu spät auf separatistische Tendenzen reagiert hätte. Prononcierte Standpunkte äußerten die Militärs: Die Erfolge der Sowjetdiplomatie beschränkten sich auf die Fähigkeit nachzugeben.

Das „gemeinsame Europäische Haus“ sei ein Mythos, weil im Endergebnis die Sowjetunion ohne Verbündete dastehe. Hinter Abrüstung und Entpolitisierung vermuteten einige Militärs den „Versuch, die Armee unter die Kontrolle antisozialistischer Kräfte zu bringen“.