Identität und Crossover

 ■ Nelson Georges Buch „Der Tod des Rhythm & Blues“

Von Wolfgang Rüger

Die Geschichte der Musik der Schwarzen ist eine Geschichte der Unterdrückung. Der renommierte schwarze Journalist Nelson George hat diese Geschichte von 1900 bis heute akribisch aufgearbeitet und anhand von repräsentativen Beispielen kritisch unter die Lupe genommen.

Die Schwarzen waren und sind selbst in den als Schmelztiegel der Nationen charakterisierten Vereinigten Staaten ein isolierter Bevölkerungsteil. In Machtpositionen zu gelangen, ist für sie auch heute noch denkbar schwer. Anders als beispielsweise den Juden, Italienern oder Iren ist es ihnen nie gelungen, ihre rassische Einheit voll zu verwirklichen. Die Schwarzen standen immer vor der Frage: Assimilation oder Eigenständigkeit? Die Wurzeln dieser Debatte sind in den gegensätzlichen Philosophien der beiden bedeutendsten Führer der Schwarzen im frühen 20. Jahrhundert angelegt.

Booker T. Washington vertrat die Idee eines pragmatischen Kapitalismus bei völliger Eigenständigkeit der Schwarzen: „Verstand, Eigentum und Charakter des Negers werden die Frage der Bürgerrechte von selbst lösen. Die beste Linie, die man im Hinblick auf die Bürgerrechte verfolgen kann, ist die, sich nicht darum zu kümmern. Kümmere dich nicht darum, und alles wird sich von selber regeln. Gute Lehrer und ausreichend Geld, sie zu bezahlen, das wird einen größeren Einfluß auf die Lösung der Rassenfrage haben als irgendwelche Bürgerrechtserklärungen und Untersuchungskomitees.“ W.E.B. Du Bois dagegen war ein entschiedener Vertreter der Assimilation. Seiner Auffassung nach konnten sich die Schwarzen nur befreien, wenn sie im Besitz einer entsprechenden Ausbildung und des Wahlrechtes waren.

Beiden gemeinsam war jedoch, wie George kritisch feststellt, daß sie „den Anfängen einer Industrie, die eine mächtige Waffe im Kampf um die Seele des schwarzen Amerika hätte sein können“ nicht die nötige Aufmerksamkeit geschenkt haben. „In der Tat war diese Unkenntnis der Bedeutung der Musik, nicht als Mittel zur Unterhaltung, sondern als Werkzeug im sozialen und ökonomischen Bereich, eine Schwäche, an der noch die Nachfolger von Washington und Du Bois litten, die die Musik und ihr Milieu als vulgär ansahen.“

Um die Jahrhundertwende war die Lieblingsmusik der schwarzen Elite das Jubilee Singing, ein Chorgesang zu Ehren eines christlichen Gottes. Diese Musik war „sauber, respektabel, seriös“. Das gemeine Fußvolk favorisierte allerdings eine ganz andere Art von Musik, den Ragtime, und der galt als „vulgär, schmutzig und unzüchtig“. Als Überbegriff für die Musik mit der „vibrierenden, tänzerischen, sexuell gefärbten Note“ verwandte man ein Wort aus dem Slang der Schwarzen: Jazz. Diese Musik wurde zwischen 1920 und 1940 vor allem wegen ihres Reizes als Tanzmusik zur ersten Ware der Schwarzen, die sich die Weißen in größerem Stile angeeignet und zum kommerziellen Hit vermarktet haben.

Eine typisch schwarze Musik blieb jedoch der Blues. Diese „Race Music“ sprach „immer die innersten Gefühle bei den Massen unassimilierter Schwarzer an, die das Stammpublikum der Bumslokale und Kneipen bildeten“. Kommerzielle Bedeutung und Verbreitung erfuhr der Blues dann ab den dreißiger Jahren, als Radiostationen anfingen, mit Hilfe der Race Music „die Schwarzen an ein bestimmtes Produkt heranzuführen“. Der listige und umtriebige Geschäftsmann Dave Clark und der Tenorsaxophonist Louis Jordan waren die Pioniere, die die Chance dieses neuen Mediums für die Schwarzen frühzeitig erkannten und eine Entwicklung einleiteten, die zur weltweiten Popularisierung der schwarzen Musik und ihrer Interpreten führte. Den Erfolg, wie er heute durch Popstars a la Prince und Michael Jackson verkörpert wird, mußten die Schwarzen allerdings teuer bezahlen, nämlich mit dem Tod des Rhythm & Blues durch das sogenannte Crossover.

Ab Mitte der siebziger Jahre dezimierte eine Welle von Verträgen mit großen Firmen die Indies, denen dadurch viele schwarze Spitzenmusiker und -komponisten verlorengingen. Die schwarzen Radiostationen verloren an Bedeutung, weil die jetzt in großem Stil von Weißen vermarktete schwarze Musik in die weißen Popsendungen überwechselte. Der schwarze Rundfunk hatte nur noch Steigbügelhalterfunktion. Songs wurden hier getestet und bei Eignung anschließend dem weißen Mainstream-Publikum als „Hit“ untergejubelt. Die weißen Plattenkonzerne und die Mehrheit der schwarzen Musiker strebten nach dem gleichen Ziel: dem effektivsten Crossover, der optimalen Vermarktung der populären schwarzen Aufnahmen an eine weiße Käuferschicht. In den siebziger Jahren gelang das am perfektesten mit der Discomusik, einer Kraft, „die den R&B zerstören half, indem sie die Musik von ihren Wurzeln losriß und die Verbindungen auslöschte, die mit dem weißen Amerika in den Sechzigern eingegangen worden waren“.

Wer sich für die Geschichte der schwarzen Musik interessiert, und das ist die Geschichte der Schwarzen schlechthin, der kommt um die Geschichte der schwarzen Radiosendungen, Labels, Impresarios, DJs, Liveclubs und Künstler des Rhythm & Blues nicht herum. Georges Der Tod des Rhythm & Blues ist neben Leroi Jones‘ The Blues People, Arnold Shaws Die Geschichte des Rhythm & Blues und Götz Alsmanns Nichts als Krach ein unverzichtbares und unerläßliches Standardwerk für das Verständnis der schwarzen Kultur. Die Lektüre dieser Bücher unterstreicht nicht nur die Bedeutung der schwarzen Künstler für die gesamte Unterhaltungsbranche, sondern verdeutlicht auch, daß das Schicksal von Musikern wie Nat King Cole, Billie Holiday, Chuck Berry, Ray Charles, Sam Cooke, Jackie Wilson oder James Brown mit dem Schicksal von Politikern wie Martin Luther King jr., Malcolm X oder Stokely Carmichael und Sportlern wie Muhammad Ali, Willie Mays, Hank Aaron oder Roberto Clemente und der Major League Baseball aufs engste verzahnt ist.

Die schwarze Kultur ist gekennzeichnet durch einen deprimierenden und schmachvollen Ausverkauf durch die Weißen. Georges Buch ist ein leidenschaftlicher Appell gegen die Diskriminierung und Ausbeutung und für die Eigenständigkeit der Schwarzen: „Die Herausforderung, der sich die schwarzen Künstler, Produzenten, Programmleiter im Rundfunk und Unternehmer jeglicher Art gegenübersehen, besteht darin, sich von den Bequemlichkeiten des Crossover loszumachen, ihre rassische Identität wiederzufinden und für eine Existenz unter ihren eigenen Bedingungen zu kämpfen (...) Damit das geschehen kann, muß das schwarze Amerika einsehen lernen, daß Rassenstolz ein ebenso würdiges Ziel ist wie Gleichheit vor dem Gesetz und daß darüber hinaus diese beiden Wertvorstellungen immer noch Hand in Hand gehen.“

Nelson George: Der Tod des Rhythm & Blues. Aus dem Amerikanischen von Lore Boas. Hannibal Verlag, 256 Seiten, 39,80 DM.