Der Weltmeister ist Dritter

■ Nach dem 2:1 gegen England ist Italien überzeugt, daß wieder einmal nicht die Besten gewannen

PRESS-SCHLAG

Was ist los? Samstag abend und bei Panattoni in Trastevere sind haufenweise Tische frei? Normalerweise gehört die Warteschlange zu dieser Pizzeria wie früher zu den einstigen HO-Gaststätten in der ehemaligen DDR. Und jetzt wundert sich Claudio, der Kellner, mit einer dieser herrlich unflätigen Handbewegung: „Geh mir weg, der dritte Platz, die spinnen doch.“

Also haben sie's doch nicht lassen können und hocken alle zuhause vor dem Fernseher. So ganz langsam hat sich nach dem ersten und tiefen Schrecken wieder etwas aufgebaut, nachdem Gesichter und Titelseiten Trauer trugen, die Stadtverwaltung in einem Anfall von Trotz die meisten Fahnen hat abhängen lassen, die Gespräche sich nur noch um Maradona drehten und seinen deutschen Widerpart Matthäus, die beiden mit der Nummer10.

In der römischen Zeitung 'La Repubblica‘ war der schleichende Wandel ganz gut nachzulesen: „Nach Bari, na gut. Der dritte Platz ist doch für niemanden wichtig“, schrieb sie am Donnerstag, „der dritte Platz wär‘ doch was“, hieß am Samstag die Schlagzeile der WM-Beilage; und am gestrigen Sonntag strahlte es von der Seite1: „Italien mit erhobenem Haupt.“

Jetzt also ist wieder alles im Lot, was durcheinandergebracht war, nicht ganz zwar, aber doch soweit, daß sich der Rest schon wird hinbiegen lassen. Trainer Azeglio Vicini für seinen Teil findet Trost in der Statistik: „Nach Punkten sind wir Erster.“ Völlig richtig. In sieben Spielen des Turniers 13 von 14 möglichen Punkten zu holen wird nicht einmal der Weltmeister schaffen können. Und außerdem: „In jedem Spiel waren wir besser“ (Vicini). Fast wahr.

Und ist nicht Salvatore Schillaci praktisch capo cannoniere, Torschützenkönig mit seinen sechs Treffern, mit grad sovielen wie Paolo Rossi 1982 (Matthäus steht vor dem Finale bei 4). Ist das nichts? Doch, doch, das ist eine ganze Menge, und daran zu denken ist sehr viel erfreulicher als sich an die Worte von Luciano Pavarotti zu erinnern, dem Tenor: „Bari? Völlig uninteressant.“ Dieses Spiel ist bedeutend, man muß es sich nur oft genug vorsagen, und hat nicht auch die FIFA den hohen Stellenwert der Partie um den dritten Platz dadurch unterstrichen, daß sie in der Preiskategorie der Halbfinals rangiert?

Medaillen gab's auch, eine bronzene für jeden der zweiundzwanzig italienischen Spieler, und im Schein des Flutlichts haben sie schon fast geleuchtet wie Gold. Also bitte, es ist schon so, daß sich jeder tifoso irgendwie weltmeisterlich fühlen kann, und später sind sie dann wieder doch nach Rom und die anderen Städte gebrettert und haben Lärm gemacht wie immer. Und Claudio, der Kellner, kann's nicht fassen.

Weil er das Spiel nicht gesehen hat, der Ignorant, nicht gesehen hat wie Roberto Baggio zauberhafte Dribblings (s. A. Gurke des Tages) und Schüsse und Pässe aus beiden Beinen holte, daß sie in Turin ganz herzschwach wurden bei dem Gedanken, was dieser 23-Millionen-Mark-Schatz alles anstellen wird zusammen mit Schillaci und Häßler kommende Saison. Ach ja, „Toto“. Er hat zwar einen Elfmeter gebraucht, um auf die Zahl 6 zu kommen, aber war das nicht rührend selbstverständlich wie sie ihm diese Chance überließen?

Bei all dem Schwärmen über den wahren Weltmeister ist ein bißchen untergegangen, daß da auch noch die Engländer waren. Auch die konnten feiern. Hätte jemand diesen Erfolg erwartet, und dazu noch, daß sie sich am Ende gar nicht übel anstellten auf den Weg dahin? Niemand hätte das, und auch der Samstag sah noch einmal eine intelligente wie faire Abwehr, mit Steven und Platt zwei kraftvolle Antreiber, einen wuchtigen Kopfstoß zum Ausgleich - all right, boys.

Die Konstellation war günstig für ein unterhaltsames Spiel: Ein Gastgeber, der sich den Unmut von 51.426 nicht zuziehen wollte, ein Gast, der nie gelernt hat anders zu kicken als nach vorn. So war es doch noch sehr viel mehr als zuvor von vielen befürchtet, im Niveau dieser WM sicher im oberen Drittel einzuordnen, obwohl es um nichts mehr ging. Um nichts? Nicht nur Azeglio Vicini wird da widersprechen, und warum soll man ihm seinen Glauben nicht lassen. So ganz langsam wird dann doch ins Bewußtsein dringen, daß andere den Titel der 14. Weltmeisterschaft aus dem Land geschleppt haben.

Trotz der ganzen dreizehn Punkte, und die 'Gazzetta Sportiva‘ konnte am Sonntag mit diesem dritten Platz so recht noch nichts anfangen: „Stolz oder Spott?“ Es bleibt ja genug Zeit, sich zu entscheiden.

Thömmes

ITALIEN: Zenga - Baresi - Vierchowod, Ferrara - Bergomi, Ancelotti, Giannini (90. Ferri), de Agostini (67. Berti), Maldini - Schillaci, Baggio

ENGLAND: Shilton - Wright (72. Waddle) - Stevens, Parker, Walker, Dorigo - Steven, Platt, McMahon (72. Webb) Beardsley, Lineker

Tore: 1:0 Baggio (71.), 1:1 Platt (81.), 2:1 Schillaci (85. Foul-Elfmeter)