„Ein wunderbares neues Image“

■ Italien kompensiert das spielerische Desaster bei der Fußball-Weltmeisterschaft mit massivem Eigenlob / Das dicke Ende kommt bald / Kleine Chronik unterbliebener Meldungen

Aus Rom Werner Raith

Für Massimo Carboni, den noch immer katergeplagten Kommentator des staatlichen Fernsehens RAI, ist, „natürlich“, ein „großer Traum zerplatzt“ - doch „ist das nicht das Schicksal aller Träume?“ Andererseits: „Vier Wochen konnten wir uns ununterbrochen einer wunderbaren Illusion hingeben, den Alltagskram vergessen, uns rein und unverwässert freuen“. Und einiges davon wird, so Carboni, „denn auch bleiben“, trotz des Desasters mit dem verlorenen Elfmeterschießen gegen Argentinien und damit dem Aus fürs Finale: „Eine absolut perfekte Organisation, eine große Reihe zukunftsweisender Veränderungen, realisierter Projekte, Verbesserungen der Strukturen und Einrichtungen auch außerhalb des eigentlich sportlichen Rahmens.“ Kurz: „Ein wunderbares neues Image unseres Landes.“

Man muß es ihm, wie vielen seiner Kollegen, wohl irgendwie nachsehen: Die geradezu gigantische Aufblähung der Sportteile in allen Zeitungen und Zeitschriften, der Überfall immer neuer, immer beeindruckenderer Meldungen aus den verschiedenen Stadien und Trainingscamps, die Informationen von der häuslichen Front der Kicker-Gattinen oder -freundinnen, die Berichte (und der Augenschein) vom Enthusiasmus der Leute auf der Straße, die Nachrichten von Freudenfesten selbst in den fernsten Außenposten Italostämmiger in Kanada, Argentinien oder in der Antarktis

-all dies hat wohl dazu beigetragen, daß nicht nur sämtliche anderen Meldungen immer kleiner ausfielen, immer weiter nach hinter rutschten und von kaum mehr jemandem gelesen wurden.

Und möglicherweise haben sogar ihre Verfasser alsbald wieder verdrängt, wenn sie Unangenehmes geschrieben hatten. Wie sonst könnte es möglich sein, daß während der vier WM -Wochen mehr als vierzig Personen mafiosen oder camorristischen Anschlägen zum Opfer fielen, darunter ein eineinhalbjähriges Kind und ein dreizehnjähriger Junge, ohne daß die nationale Presse aufgeschrien hätte, ganz zu schweigen von der durch mehrere tausend Reporter vertretenen sogenannten „Weltöffentlichkeit“? „Stell dir nur vor“, sagt einer der wenigen Nicht-WM-Infizierten Kollegen von 'Il manifesto‘, „irgendein Terrorkommando hätte auch nur einen einzigen Politiker angeschossen oder auch im Flughafen einen einzigen Reisenden verletzt - die Zeitungen wären tagelang voll von Berichten, Analysen, Kommentaren gewesen. Aber daß in Italiens Süden Bürgerkrieg herrscht, das nehmen wir geradezu als Selbstverständlichkeit hin... Vor vier Jahren, als Mexiko anstand, hat der Fußballweltverband zur Bedingung gemacht, daß die Regierung wenigstens zu einem Waffenstillstand mit den Guerilleros kommt, und da gab es dann nicht einen einzigen Toten. Bei Italien hat man nicht einmal den Versuch eines Drucks auf die Verantwortlichen unternommen, diesen Krebsschaden auch nur einigermaßen ernsthaft anzugehen.“

Weltkonsens

des Positiven

Das Weltspektakel hat, so scheint es, zu einer Art Weltkonsens geführt: Wir berichten Negatives nur, wenn es einer der vor dem ersten Anpfiff kolportierten zahlreichen Befürchtungen entspricht - wenn ein Stadion einstürzt, sich Fans totschlagen, mehr gefälschte als echte Karten im Umlauf sind. Alles andere wird von der internationalen Schreiberzunft als inneritalienische Folklore abgelegt und allenfalls am Rande berichtet, und von den nationalen Journalisten bald auch ganz in diesem Sinne angeboten (bzw. weggelassen).

Wen juckt's, daß wegen der in die Stadien abkommandierten Rotkreuzeinheiten mehrere Dutzend Personen starben, da der rechtzeitige Transport ins Krankenhaus unterblieb? In Cagliari haben vier Fans und zwei Polizisten einige Kratzer abgekriegt, und das ist viel größere Schlagzeilen wert. In Neapel hat faktisch nur das Stadion sauberes Wasser - der Rest der Proletariervorstädte bekommt schon seit Wochen, Panne bei den Umbauten der Stadionviertel, eine braune Brühe aus dem Hahn; doch das Fernsehen postiert sich lieber dort, wo der Bus mit den Balltretern einfährt und gibt minutenlang einem hysterischen Mädchen Raum, das unentwegt „Baggio, l'ho visto“ - ich habe Baggio gesehen, kreischt.

Zwischen Venedig und Cattolica fürchten die Menschen eine neue Algenplage, weil die Sanierung zugunsten der WM zurückgestellt wurde, doch niemand nimmt Notiz davon, dort sind schließlich keine Stadien für die „Mondiali“. Selbst große internationale Nachrichten greifen kaum: In einem US -Krankenhaus stirbt Anatoli Grischenko, jener Pilot, der mit seinem Löscheinsätzen über dem kochenden Reaktor von Tschernobyl Tausende von Menschenleben gerettet hat, an den Folgen der Bestrahlung; doch das ist nur der kommunistischen Parteizeitung 'L'Unita‘ eine größere Würdigung oben auf ersten Seite wert, 'La Stampa‘ widmet ihm ein Ministück auf Seite7, 'La Repubblica‘ honoriert ihn gar erst auf Seite19 dafür sind auf den Seiten1 bis 5 volle viereinhalb Seiten Fußball. Selbst die eineinhalbtausend Toten von Mekka müssen dem „Calcio“ allüberall den Vortritt lassen.

Der Katzenjammer, darüber werden sich spätestens seit dem abrupten Stopp der „Azzurri“ beim WM-Gipfelsturm zumindest die inneritalienischen Schreibprofis allmählich wieder klar, wird kommen, und nicht zu knapp. Und er wird nicht nur die Manöverkritik an der Nationalmannschaft und am (vortags noch bejubelten) Trainer Azeglio Vicini betreffen, auch nicht nur „all die liegengebliebenen Alltagprobleme“ des RAI -Kommentators (welches diese auch immer seien), und vergleichweise harmlos wird selbst die gerichtliche Behandlung der tagelang heiß diskutierten Frage ablaufen, wieso bei angeblich 94 Prozent verkaufter Stadionbillets bei nahezu allen Spielen ein Viertel leerer Plätze gähnte (und gleichzeitig bei angeblich ausverkauften Häusern tausendweise Karten vor den Stadien auftauchten - echte, keine gefälschten).

„Das, was auf uns zukommt“, fürchtet der grüne Abgeordnete Sergio Andreis, „ist ein Riesenberg von Nachfolgelasten, von denen wir viele noch überhaupt nicht kennen.“ Darunter fällt zum Beispiel der fast einem Totalkollaps gleichende Rückgang des Fremdenverkehrs: Statt der von den WM-Organisatoren prophezeiten zusätzlichen drei Millionen kamen zwei Millionen weniger als im Vorjahr - mit einem Gesamtabsacken um 25 Prozent rechnet Ugo Da Domo, TUI-Manager für Italien. Besonders betroffen die Adria mit einer Halbierung der (schon im Vorjahr stark verminderten) Buchungen. Angesichts der Tatsache, daß gut 15 Prozent der italienischen Volkswirtschaft wesentlich vom Tourismus abhängt, eine geradezu katastrophale Entwicklung.

Schwere

WM-Lasten

Doch damit nicht genug: Reihenweise reklamieren die vom WM -Fimmel besonders betroffenen Städte bereits schwere Lasten wie halbfertige Infrastrukturen, neue Verkehrsengpässe, noch auf Jahre hinaus offene Baustellen, dazu Versorgungsmängel bei Wasser und Strom (alles noch verstärkt durch die herrschende Trockenheit und die Verseuchung vieler Gebiete durch Pestizide und Raubbau). Und „dabei wissen wir auch noch aus leidvoller Erfahrung etwa nach den Olympischen Spielen oder der Europameisterschaft“, so der römische Stadtrat und Europaabgeordnete Gianfranco Amendola, „daß nach der Weltmeisterschaft sowieso keine müde Lira mehr in die Bauruinen investiert wird“. Auch der - für die „Mondiali“ im letzten Moment ausgerufene - soziale Frieden wird bald hin sein: Ein ursprünglich für den 11.Juli ausgerufener Generalstreik ist zwar erstmal ausgesetzt, aber nicht aufgehoben. Verständlich, denn durchtrieben hatten die Arbeitgeber versucht, die allgemeine Ablenkung durch die WM auszunutzen und eine der wichtigsten Errungenschaften der Arbeiterbewegung Italiens zu kippen, die sogenannte „scala mobile“, die an die Inflationsentwicklung gekoppelte automatische Lohnanpassung. Gescheitert bisher die Schlichtungsversuche der Regierung.

Die steht derzeit auch anderwärts besonders WM-geschädigt da, hatte sie doch fest mit dem Titelgewinn gerechnet und darauf gesetzt, daß die Italiener danach für mehrere Monate an nichts anderes mehr denken als an den Erfolg ihrer „Azzurri“. Die Hoffnung, einen ganzen Schwung mißliebiger Gesetze (wie das gegen Trustbildung und zur Beschränkung der Pressemacht von Konzernen) versanden lassen und andere ungehindert durchbringen zu können (wie etwa das zur Reform der Gemeinden und die Ausschaltung kleiner Parteien durch Wahlrechtsänderungen) - sie wird sich wohl nicht erfüllen. Das allerdings sehen viele Italiener dann doch wieder als eine positive Folge des Katzenjammers an.