: „...überzeugt, dem Frieden zu dienen“
■ Interview mit dem hauptamtlichen inoffiziellen Mitarbeiter Horst Bauer£ vom Auslandsspionagedienst „Hauptverwaltung Aufklärung“ der Stasi Die HVA ist von der eigenen Staatsführung oft nicht ernst genommen worden / Das Verhältnis zu andereren MfS-Abteilungen war eher „feindlich“
taz: Herr Bauer, Sie waren jahrelang bei der Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) als „hauptamtlicher inoffizieller Mitarbeiter“ beschäftigt. Was war Ihre Aufgabe?
Horst Bauer: Mein Einsatzgebiet waren hauptsächlich die BRD, West-Berlin und Dänemark. Das hing von den Personen ab, mit denen ich gearbeitet habe.
Was war der Inhalt Ihrer „Arbeit“? Was hat Sie und Ihre Kollegen interessiert?
Eigentlich alles, was gesellschaftsrelevant war: Die Haltung von bestimmten Leuten, zum Beispiel in bestimmten Institutionen wie dem DGB oder in Instituten und Universitäten. Es ging vor allem um Leute, die mit der DDR und den Beziehungen zu ihr zu tun hatten. Das Militärische war vergleichsweise uninteressant. Überwiegend handelte es sich um Abschöpfung.
Was heißt für Sie abschöpfen?
Abschöpfung bedeutete im Prinzip zu erfahren, wie Personen bestimmte Prozesse einschätzen und bewerten, welche Positionen andere Leute ihres Umfelds haben. Das Ganze wurde aufgeschrieben und verdichetet. In der Art: Professor Meyer hat die und die Position, wo kann der eingeordnet werden.
Wieviele solcher Personen hat denn ein hauptamtlicher Inoffizieller Mitarbeiter betreut?
Normalerweise hat ein Werber immer nur einen Vorgang bearbeitet, ihn abgeschlossen und dann an seinen Führungsoffizier abgegeben.
Wie sah der Auftrag eines Inoffziellen konkret aus?
Wenn du rausgefahren bist ins Ausland, dann meistens, um die Zielperson zu treffen. Man muß unterscheiden: Zum einen gab es den Auftrag, zum anderen ging es darum, die eigene Legende zu verdichten. Das heißt, seine Ortskenntnis zu vertiefen und sich mit den örtlichen Gegebenheiten vertraut machen. Das war besonders dann wichtig, wenn man mit einem BRD- oder Westberliner Paß rausgegangen ist. Es sollte alles in der Legende bis zum letzten Punkt stimmen. Reiste man mit DDR-Paß, mußte es eine Dienstreise sein, und man mußte den entsprechenden Dienstauftrag aufweisen.
Woher kamen die „Zielpersonen“, und wer vergab die Aufträge?
Die meisten Zielpersonen waren vorgegeben, Leute die schon vorher einmal kontaktiert wurden. Die Hinweise kamen auch von Leuten aus der BRD, die für das Ministerium gearbeitet haben. Sie meinten, bei der und der Person könnte ein Kontakt interessant sein. Das konnte zum Teil nur aus dem Bekannten- oder Freundeskreis dieser Person gekommen sein. Wenn zum Beispiel bekannt war, an dem oder jenem Tag fährt er mit dem D-Zug nach Leipzig, wußten unsere Leute dann schon von der Grenzkontrolle an, ob er im Zug sitzt. Du kanntest seinen Namen, seinen Vornamen, daß er Student ist und so weiter. Dann bist in den Zug zugestiegen. Du hattest Informationen über wesentliche private Dinge und wußtest, wohin er fahren will. So konnte das Ganze auf eine Zufallsbekanntschaft hinauslaufen. Anhand des Berichts, den du anschließend geschrieben hast, haben die Führungsoffiziere dann entschieden, ob der Kontakt lohnt oder nicht. Zwei Drittel dieser Entscheidung beruhten auf der Einschätzung des Werbers, ein Drittel auf objektiven Kriterien: Ist er als Zielperson geeignet, und kann er später aufgebaut werden.
Wie sah denn die Legende aus, unter der man als inoffizieller Hauptamtlicher geführt wurde?
Du wurdest aus deinem Betrieb rausgezogen, weil es nicht bekannt werden durfte, daß da die Stasi sitzt. Bei mir wurde aufgebaut, daß ich im Parteiapparat hauptamtlich arbeite und eine Dissertation schreibe. Das Thema durfte ich mir selber aussuchen. Die Legende war ein Stück Realität. Die betriebliche Anbindung war dagegen Legende. Das lief über die Bezirksleitung der Partei, meistens über den zweiten Sektretär.
Wie sind denn die Zuträger bei der Stange gehalten worden?
Ein ganz wichtiger Punkt in der Vorbereitung war, deren Interessenlage abzuklären. Was sind die Interessen oder die Hobbies. Entsprechend wurde vorgegangen. Wenn einer die DDR kennenlernen wollte, durfte er kostenlos in der DDR Urlaub machen. Man versuchte, möglichst wenig mit Geld zu regeln. Das war ein Grund, weshalb die HVA so gut war. Die Leute waren überzeugt, für eine gute Sache zu arbeiten - in einer kritischen Distanz zur Politik in der BRD - und daraus folgend für das Land hier zu arbeiten.
Wußten die denn, daß sie für die DDR arbeiten?
Manche wollte es gar nicht wissen. Sie konnten es aber ahnen. Sie wußten schon, daß sie gegen die BRD arbeiten. Andere wußten von vorneherein, mit wem sie es tun hatten. Mit denen gab es die geringsten Probleme, weil eine Sympathie für die DDR von Anfang gegeben war.
Ging es bei der Informationsbeschaffung im wesentlichen um Geheimnisse oder mehr um frei zugängliche Unterlagen?
Um Geheimnisse ging es wenig. Die ich kennengelernt habe, waren auch gar nicht in den Positionen, daß sie Geheimnisse hätte verraten können. Die hätten - und das wurde gemacht perspektivisch aufgebaut werden müssen. Es gab Leute, die gezielt in Institutionen, Parteien und Betriebe reingebracht wurden. Andere waren wegen ihres großen Bekanntenkreises interessant. Zum Beispiel waren Journalisten wegen ihrer hohen Flexibilität wichtig. Viele Dinge, die sie unternehmen können, sind unauffällig, weil sie sowieso schon zu ihrem Beruf gehören.
Gab es an diese Leute regelrechte Aufträge?
In der Phase 81 bis 83 ging es beispielsweise darum, das Verhalten der Parteien zum Raketenbeschluß der Nato einzuschätzen: Wie verhalten sich bestimmte Leute in den Parteien, wie kann der Nachrüstungsbeschluß gekippt werden, wie verhält sich das politische Umfeld. Das wollte man wissen, bis hin zu den konkreten militärischen Standorten.
Gab es Aufträge an die Mitarbeiter der Friedensbewegung?
Nein. Es galt, möglichst nicht an die Friedensbewegung ranzugehen, keine Quelle daraus zu nutzen. Lieber Leute nehmen, die scheinbar als politisch neutrale Beobachter galten. Die Friedensbewegung durfte nicht in den Ruch kommen, für die Stasi zu arbeiten. Es wurde peinlichst darauf geachtet.
Kann man sagen, es wurde im großem Maßstab versucht, perspektivisch Mitarbeiter in interessante Positionen zu schleusen?
Meistens. Wenn es Studenten waren, dann auf jeden Fall. Man hat sich solche Studenten ausgesucht - vorrangig Jurastudenten und aus dem technischen Sektor - von wo aus es viele Wege nach oben gibt. Im technischen Bereich wollte man an Know-how rankommen, bei den Jurastudenten war es das politische Feld.
Hat die HVA in den Werdegang dieser Leute eingegriffen und bei beruflichen Entscheidungen mitdiskutiert?
Wenn sie selber solche Frage aufgeworfen haben, dann sollte man Einfluß auf die Entscheidung nehmen. Das ging so weit, daß man sagte, engagiere dich politisch nicht auffällig, nicht rechts, nicht links. Idealtypisch wäre eine Mitgliedschaft in der FDP gewesen. Da ging bis zum Wahlverhalten: Die Zielperson sollte möglichst nicht grün wählen. Das war aber auch abhängig vom Bundesland. War es ein Hamburger, hat man durchaus SPD und linke SPD-Positionen toleriert. Wenn sie zu links waren, hat man versucht, korrigierend einzuwirken.
Zum Stichwort sowjetischer KGB. Wie stand die HVA zu den „Freunden“?
Ich weiß, daß es eine gute Zusammenarbeit und Abstimmung zwischen KGB und HVA gab. Das wurde in der UdSSR gemacht. Meine Abteilung hatte gute Kontakte zum KGB in Wolgograd. Es gab offensichtlich eine ähnliche regionale Beziehung, so wie die BRD in der Zuständigkeit bei der HVA regional auf die verschiedenen Bezirksämter aufgeteilt war. In bestimmten Bereichen war das Vertrauen in den KGB grenzenlos. Allgemeine Erfahrungen wurden persönlich ausgetauscht. Meine Leute sind dazu nach Wolgograd gefahren. Informationen, die die Sowjetunion betrafen, wurden unter absolutem Quellenschutz weitergereicht. Umgekehrt ging es sicherlich auch so.
Als zum Beispiel Mitte der 70er Jahre Stiller aus dem Sektor Technik der HVA zum BND überlief, gab es eine Abstimmung mit dem KGB. Zu dieser Zeit sollte ich in die BRD reisen. Das durfte ich deswegen dann nicht. Zu diesem Zeitpunkt wurde mit Hochdruck daran gearbeitet herauszufinden, mit wem Stiller Kontakt hatte, und wie weit sein Wissen reichen konnte. Sein Abgang wurde in der HVA bis heute als die größte Niederlage empfunden. Im Anschluß daran wurde das Abschottungsprinzip noch einmal verschärft, so daß mein Führungsoffizier nicht mehr wußte, mit wem ich in der BRD arbeite.
War man als Werber überzeugt von dem, was man machte? Waren Sie überzeugt, daß es sich um notwendige und wichtige Aufträge gehandelt hat?
Ich war überzeugt, da will ich gar keine Abstriche machen. Das klingt vielleicht klischeehaft. Aber erstens war man überzeugt, daß es im großem Sinne dem Frieden gedient hat. Im Prinzip ging es nach dem Motto: Wie würden die und die sich verhalten, welche Grundsatzpositionen gibt es, und was liegt an strategischen Positionen für die nächsten fünf Jahre im Verhalten gegenüber der DDR vor. Es ging darum, die Politik der Bundesregierung für Partei und Staatsführung berechenbar zu machen. Aber der Bereich der Strategie wurde in der HVA eklatant vernachlässigt.
Was wäre denn strategisch das Fernziel gewesen?
Wenn strategisch gedacht worden wäre, dann wäre das Szenario DDR, das jetzt läuft, verhindert worden. Ich glaube, die Leute haben gewußt, was kommen wird. Aber man hat sie nicht beachtet. Die Partei- und Staatsführung hat ihren eigenen Geheimdienst in diesen Dingen nicht ernst genommen. Mit der Hauptaufklärung wollten viele auch nichts gemein haben, weil sie Informationen durch die Bank von Intellektuellen bekamen, die sie selber in der DDR nicht geduldet haben. Entsprechend haben sie diese Personen nicht beachtet. Für die Informierten in der Politik war durchaus ersichtlich, aus welchen Quellen die Informationen kamen.
Man hat sich deswegen oft gefragt: Reagieren die nicht aus Schutzinteresse der Quelle gegenüber oder aus politischer Dummheit? So wie 1982, als es in diesem Land eine Krise in der Ernährungssituation gab. Die Mitarbeiter haben damals gesagt, das ist ein Stück politischer Erpreßbarkeit der DDR, die sich über Kurzzeitkredite, wie sie damals Schalk -Golodkowski eingeleitet hatte, nicht lösen läßt. Die Informanten aus der BRD sagten, daß man diesen Weg nicht gehen sollte. Man solle nicht diesen Milliardenkredit aufnehmen und sich strategisch nicht so sehr auf den innerdeutschen Handel festlegen, sondern großflächiger denken. Man sollte Japan Positionen auf dem osteuropäischen Markt verschaffen und den Handel mit Österreich, Frankreich und den skandinavischen Ländern verstärken. Die eindeutige Orientierung zielte damals an den Fachleuten vorbei aber nur auf den innerdeutschen Handel. Das hat dazu geführt, daß die Leute in der DDR nur noch die BRD und kein anderes Land kennen.
Nach Ihrer Darstellung war die HVA lediglich ein großer Politikberatungsapparat. Was ist mit der Militär- und der Wirtschaftsspionage, der Spionageabwehr und der Bespitzelung in der DDR? Daran war die HVA doch auch beteilgt.
Die Auslandsaufklärung war schon das Wichtigste. Nach innen wurde so gut wie gar nicht gearbeitet, und wenn, dann nur als Abfallprodukt. Unter den Leuten, die für die HVA rekrutiert wurden, findet man sehr viele, die Außenpolitik oder Regionalwissenschaft studiert haben. Die hatten eine hohe Intelligenz und kamen aus leistungsorientierten Studiengängen. Für die HVA mußte man bestimmte intellektuelle Fähigkeiten mitbringen wie Sprachfertigkeiten, schnelle Ausffassungsgabe und die Fähigkeit, schnell entscheiden zu können. Diese Leute hatten auch nicht das verklärte Bild der DDR. Der Widerspruch lag darin, daß die HVA-Mitarbeiter, die vor zwanzig oder dreißig Jahren angefangen haben, nicht diese Qualifikation vorwiesen. Es fiel ihnen schwer, mit Intellektuellen zu arbeiten. Mit mir hatten sie Probleme, weil ich aus dem kulturellen Sektor kam. Die haben die Welt der Künstler und Literaten einfach nicht verstanden. Als sie mich 1975 geworben haben, war das die Phase mit Biermann gewesen. Die konnten nicht verstehen, daß ich eine andere Position hatte, als in den Zeitungen gedruckt war. Weil sie aber an deinem Potential interessiert waren, haben sie dir aus deiner Haltung keinen Strick gedreht. Der Nutzen, den sie für sich sahen, war ihnen näher als der mögliche Verlust solcher Leute.
Die HVA galt als einer der perfektesten Geheimdienste.
Ich glaube, das liegt daran, daß viele, wie gesagt, sehr klug waren und eine gesunde, kritische Distanz zu dem hatten, was als Sozialismus praktiziert wurde. Die Mitarbeiter waren auch keine billigen Denunziaten, sondern Leute, die überzeugt waren, sie tun was fürs Land.
Wie war dann das Verhältnis der HVA zu den anderen Stasi -Abteilungen?
Voller Mißtrauen und feindlich. Es hat auch Kontrapositionen gegeben. Für mich war Leistung wichtiger als politisches Bekenntnis. Für die war das umgekehrt. Politisch waren die auf der Höhe, indem sie das 'Neue Deutschland‘ von Seite eins bis drei auswendig vortragen konnten. Kulturell waren sie desinteressiert.
Das Ausmaß der Stasi-Aktivitäten war uns nicht bekannt. Es gab auch Bereiche, wo du mit anderen Abteilungen kollidiert bist. Da sind plötzlich deine Informationen in Abrede gestellt worden. Wir mußten dann selbst den Beweis erbringen, daß unsere Informationen stimmen. Die konnte man vergessen. Jeder hat gekocht, wenn er mit diesen Idioten zu tun hatte.
Hat sich die HVA als Elite begriffen?
Sicher. Jeder hat sich zugehörig gefühlt und gedacht: Du stehst oben, bist Reisekader und mußt kein billiges Denunziantentum an den Tag legen.
War die HVA ein Schritt auf der Leiter nach oben?
Überhaupt nicht. Wenn du beispielsweise hauptamtlicher Inoffiziller warst, wurde in dieser Zeit sehr viel Wert auf die fachliche Qualifikation gelegt. Als Inoffiziller lief man sowieso nur zeitlich begrenzt. Du bist danach in eine Position gebracht worden, von der aus man ohne das MfS weiter arbeiten konnte.
Was machen nun die früheren HVA-Mitarbeiter angesichts der Stasi-Auflösung?
Einen kenne ich, der hat sich in die Politik als Mitarbeiter einer Partei zurückgezogen, eine andere arbeitet jetzt als Sekretärin. Vielen Leuten hat die HVA eine sehr gute Legende verschafft, so daß sie quasi ein Stück Schuld damit abgetragen hat, daß sie den Leuten eine Arbeit verschafft hat. Ich glaube, die HVA-Leute hatten mit der Eingliederung die wenigsten Probleme. Sie hatten ja alle eine Fachausbildung.
Müssen die jetzt ihre Enttarnung fürchten?
Die hauptamtlich Inoffiziellen, denke ich, ebenso wie die Hauptamtlichen und die Führungsoffiziere. Bei mir ist sicherlich der Deckname im Computer. Es muß ja nicht der Klarname sein. Bei den Hauptamtlichen ist es klar. Die waren namentlich in den Personalunterlagen erfaßt, ausgewiesen auf HVA. An solche Dinge haben die Leute, die in der Stasi für die Innere Sicherheit zuständig waren, nicht gedacht.
(*Der Name wurde von der Redaktion geändert)
Interview: Wolfgang Gast
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