Einübung in den sozialen Konflikt

■ Die Warnstreiks in der DDR-Metallindustrie und die unsicheren Arbeitgeber

KOMMENTAR

Tarifverhandlungen in der Umbruchphase sind ein Lotteriespiel. Es gibt kaum verläßliche Daten, an denen sich die Tarifparteien orientieren könnten. Und eingespielte Verhaltensmuster gibt es auf beiden Seiten des Verhandlungstisches ebenfalls nicht. Kein Wunder, daß bei beiden Tarifparteien die Berater aus dem Westen eigentlich die erste Geige spielen.

Aber auch sie können derzeit noch nicht wissen, wie die DDR -Industrie die nächsten Monate überstehen wird. Auf seiten der Arbeitgeber führt dies dazu, möglichst wenig Verpflichtungen einzugehen, die ihre Manövrierfähigkeit beim notwendigen Strukturwandel einengen. Die Gewerkschaften dagegen zielen auf einen sozial abgefederten Strukturwandel, der das gegenwärtige Lebensniveau der Beschäftigten garantieren und gleichzeitig den Übergang in produktivere Tätigkeiten ermöglichen soll.

Die Tarifverhandlungen sind gleichzeitig für beide Parteien eine Einübung in die neuen marktwirtschaftlichen Verkehrsformen für die Austragung sozialer Interessenkonflikte. Die Warnstreikbewegung in den DDR -Metallbetrieben ist in ihren Motivationen konservativ. Sie zielt auf die Erhaltung sozialer Standards der Beschäftigten. In der breiten Beteiligung der Arbeiter und Arbeiterinnen drückt sich die Angst vor sozialer Deklassierung ebenso aus wie die naive Hoffnung auf eine Gewerkschaft, die mitten in der rasanten sozialen und ökonomischen Umwälzung alles Böse fernhalten soll. Gleichzeitig aber sind die Warnstreiks auch ein Schritt aus 40jähriger sozialer Lethargie, ein erster zaghafter Versuch aktiver Einmischung in die Gesellschaft.

Die Beschäftigten wie die Arbeitgeber haben offensichtlich ihre sozialen Rollen in der zukünftigen profitorientierten sozialen Marktwirtschaft noch nicht gefunden. In den Tarifauseinandersetzungen dieser Tage erproben sie Verhaltensmuster, die sie in den kommenden Jahren noch brauchen werden. Das gilt übrigens auch für die Unternehmer. Viele Betriebsleiter in der DDR sind sich offensichtlich noch gar nicht klar darüber, das die Zeiten der sozialistischen Betriebsgemeinschaft vorbei sind, daß sie von nun an die sozialen Träger von Profit und Kapitalretabilität sein müssen, wenn sie nicht untergehen wollen. Und andere, vorzugsweise krasse Wendehälse aus der SED-Zeit, führen sich nun auf wie im Frühkapitalismus. Die Polarität sozialer Interessen nach dem bundesdeutschen Sozialstaatsmodell will geübt sein.

Martin Kempe