Zentralismus bleibt notwendig

■ ZK-Mitglied Karen Karagesian zieht eine Zwischenbilanz des KPdSU-Parteitages: Zwischen Führungsanspruch und Parteienpluralismus

INTERVIEW

taz: In seinem Eröffnungsreferat hat Gorbatschow die Akzente seiner bisherigen innerparteilichen Allianz sachte zugunsten des „radikaleren“ Spektrums verschoben. Alles in allem war es aber nochmal eine gewaltige Anstrengung, die Kräfte an die Partei zu binden. Ist es dafür nicht schon zu spät?

Karen Karagesian: Es war noch einmal der Versuch, die Partei zusammenzuhalten. Ob ihm das gelingt, kann ich nicht endgültig sagen. Heute kann man nicht mal mehr in der KPdSU voraussagen, was morgen sein wird. Alles befindet sich im Prozeß, auch wenn von „Konsolidierung“ die Rede ist. Es sieht aber so aus, als wäre es ihm gelungen, die Gebietssekretäre von seiner Wiederwahl zu überzeugen. Die Krise der Partei und des Landes macht es einfach erforderlich, daß Präsidentenamt und der Posten des Generalsekretärs nicht getrennt werden. Denn noch ist der Prozeß der Übergabe der Macht an die Sowjets nicht abgeschlossen. Faktisch hat die Partei als Staatspartei, die sie noch immer ist, die Macht. Diese Argumentation hat überzeugt.

Aber die Kritik von konservativer Seite machte sich ja nicht allein an der Ämterhäufung fest, die war doch grundsätzlicher Natur. Ist da ein Kuhhandel gelaufen oder glaubt der Apparat, Gorbatschow so noch bremsen zu können?

Der rechte Flügel denkt bestimmt so. Nasarbajew hat in seinem Bericht Gorbatschow und die Führung hart kritisiert, aber konstruktiv. Und zum Schluß hat er sich für Gorbatschow ausgesprochen. Ich glaube, das spiegelt das Gros der Meinungen auf dem Parteitag wider. Intentionen, Gorbatschow zu kippen, kommen von den Rändern. Nasabarjew sieht die Notwendigkeit, weil es trotz aller Kritik zur Zeit keine bessere Führung gibt.

Keine personellen Alternativen zum jetzigen Generalsekretär?

Nun, Gorbatschow wird nicht deswegen wiedergewählt, weil er seine Sache schlechtgemacht hat, aber kein Besserer zu finden wäre. Er ist eine gute Figur mit vielen Problemen und Fehlern allerdings, die sich heute aber auch nicht vermeiden lassen. Die Inkonsequenz der Führung war ein großer Fehler. Vor einem Jahr wollte man von einem Markt nichts hören und jetzt ist er in aller Munde. Nur hätte man damals auch noch nicht wie heute darüber reden können.

Heißt das, erst einmal müssen erzieherische Maßnahmen greifen und dann werden die Reformen implementiert?

Bei Albakin läßt sich das so sagen, nehmen wir Gorbatschow, dann schätzt er die Lage ein und erkennt, wir sind nicht bereit, wirtschaftlich und psychologisch. Manchmal sieht er es falsch, denn er hat diese Prozesse ja selbst durchlaufen. Er ist bei weitem nicht der weise Mann, der alles im voraus entwirft.

Wie wirken ihrer Meinung nach die Vorstellungen des Kongresses auf die Bevölkerung?

Die Einschätzung dieses Parteitages läßt sich erst nach seinem Ende vornehmen. Denn es folgt noch ein zweiter Teil. Obwohl hier zum Teil auch dieselben Delegierten wie auf dem Gründungskongreß der RKP sitzen, hat er doch schon ein anderes Image entwickelt. Die Partei steckt andererseits in einem Autoritätsschwund. Das ist der Bevölkerung nicht verborgen geblieben und verstärkt ihre Kritikbereitschaft noch zusätzlich.

Warum ist es eigentlich wünschenswert, daß die Partei sich nicht spaltet?

Befürchtungen, durch einen Bruch stark geschwächt zu werden, sind berechtigt. Die positiven Impulse, die vom Zentrum ausgehen, könnten dann nicht mehr umgesetzt werden. Das basiert auf Einschätzungen der Lage im Lande und natürlich droht das Schicksal der Kommunistischen Parteien in den anderen Ländern Osteuropas. Ich glaube, eine Zusammenarbeit ist nicht nur mit den „Linkskräften“ möglich, sondern auch mit dem, was man heute nicht unbedingt richtig „rechts“ nennt. Grob gesagt, mit allen Kräften, die nicht nur ein rein politisches Spiel spielen. Die um eine Suche nach einem Ausweg bemüht sind. Was an den Rändern gekocht wird, sind Ambitionen, politische Süppchen.

Wenn Gorbatschow sagt, in zwei Jahren muß etwas passiert sein, sonst wird sich die Mannschaft zurückziehen - steckt da nicht schon eine gewisse Abkehr von der Partei dahinter? Auch Schewardnadse wäre ja nicht traurig, würde er nicht wieder ins Politbüro gewählt...

Von der Partei des Apparats hat man sich entfernt. Zum Teil hat Gorbatschow die bürokratischen Strukturen im Stich gelassen. Aber das war eins der wesentlichen Ziele des Umbaus. Die Aufgabe dieses Parteitages ist die Perestroika der Partei, eine grundlegende Erneuerung. Wir steuern ja auf ein Mehrparteiensystem zu. Darin liegt doch schon etwas Sensationelles...

Die Vorbedingungen der Demokratischen Plattform, den Demokratischen Zentralismus preiszugeben und die Betriebszellen aufzulösen, darauf wird sich der Kongreß doch nicht einlassen...

Der Demokratische Zentralismus ist so eine Sache, die wir eigentlich nie erlebt haben. Wie sieht er wirklich aus? Zentralismus bleibt notwendig. Denn wir haben schon einige Nachteile durch die dilettantischen Übungen in Demokratie einstecken müssen. Daher frage ich: warum keinen Zentralismus unter der Kontrolle der Gesellschaft?

Gorbatschow ist ja ein Semantiker, wieso erfindet er dann nicht für einen so diskreditierten Terminus einen neuen?

Sie werden sehen, auch in der Demokratischen Plattform wird dieses Prinzip praktiziert.

Aber trotzdem wird doch die Spaltung vollzogen, wenn nicht auf dem Parteitag selbst, dann hinterher. Es spricht aus taktischen Gründen auch vieles für eine Einheit - gerade mit dem Blick auf die Provinz, wo die Kongruenz von Partei- und Staatsstrukturen noch intakt ist. Aber wie will man Jakowlew und Ligatschow unter einen Hut bekommen?

Ich hoffe nicht nur die Spaltung läßt sich verhindern, denn es gibt sehr viele aktive Politiker, die ausschließlich das Wohl des Landes vor Augen haben. Deshalb schwebt mir eine Union vor Augen, die die Grenzen der Partei überschreitet. In der sich alle sammeln, die die Umgestaltung für grundsätzlich richtig halten. Es kommt die Zeit, in der wir nicht mehr reden, sondern arbeiten müssen. Wer weiter redet, den wird die Zeit fressen. Es hängt alles davon ab, wie die KPdSU sich unter den Bedingungen eines Mehrparteiensystems verhalten wird. Pocht sie auf ihren Führungsanspruch, wird daraus nichts.

Sehen Sie keine Gefahr eines Rückfalls ins Totalitäre? Auf dem Kongreß der Russischen Kommunisten tauchten Töne auf, die in Richtung einer russisch-nationalen Organisation deuteten?

Ich glaube nicht. Das sind wiederum nur Tendenzen an den Rändern.

Karagesian ist Leiter der Sektion Humanitäre Rechte in der Ideologieabteilung des ZK der KPdSU. Mit ihm sprach Klaus Helge Donath.