DDR-Kritik an Nato-Beschlüssen

■ Ministerpräsident und Außenminister enttäuscht / „Atomkriegsrisiko besteht weiter“ / Gorbatschow lobt „Schritt in richtige Richtung“ / Genscher sieht Fundamente für neue Sicherheitsordnung in Europa

Berlin (dpa/ap/taz) - Mit Enttäuschung hat die DDR-Regierung die Ergebnisse des Londoner Nato-Gipfels aufgenommen. Vor allem das Festhalten der Atlantischen Allianz an einem atomaren Erstschlag „im äußersten Notfall“ kritisierten DDR -Ministerpräsident Lothar de Maiziere und Außenminister Markus Meckel. Eher verhalten fiel die Moskauer Resonanz auf das Londoner Abschlußpapier aus. Zwar bescheinigte Staatspräsident Michail Gorbatschow dem seit seiner Gründung gegnerischen Militärbündnis, es habe einen „bedeutenden Schritt in die richtige Richtung“ getan, fügte jedoch hinterlistig hinzu, die „Politik der Perestroika“ sei „auch bei der Nato schwer“. Die WortführerInnen der Nato hingegen feierten den Gipfel erwartungsgemäß als „Beginn einer neuen Ära“ (US-Präsident Bush) und „Markstein in der Geschichte“ (Bundeskanzler Kohl).

Doch nach dem Abschluß dieser historischen Veranstaltung, die das Ende des Kalten Krieges markieren sollte, stellte DDR-Außenminister Meckel am Freitag ernüchtert fest, daß das Risiko eines Atomkrieges in Europa weiterhin bestehen bleibe. Zwar habe die Nato „ermutigende Ansätze“, wie die Bereitschaft zur Verbesserung des Verhältnisses zwischen Mitgliedsstaaten von Nato und Warschauer Pakt gezeigt. Doch wolle sie ihre Strategie der „flexiblen Antwort“ nur modifizieren, nicht aber ersetzen. „An Atomwaffen, deren Modernisierung weiter möglich sein soll, will die Nato festhalten. Die Gefahr der Einführung neuer luftgestützter Atomwaffen ist keineswegs gebannt.“ Die Beschlüsse kämen den Koalitionsvereinbarungen der DDR-Regierung „bei weitem nicht nahe genug“.

Die Regierungschefs der 16 Nato-Mitgliedsländer hatten sich auf die angeblich neue Formel geeinigt, wonach Atomwaffen künftig nur als „letzter Ausweg“ eingesetzt werden können und jeder Angreifer der die Grenze überschreitet mit einem nuklearen Gegenschlag rechnen muß. Ein Ersteinsatz von Atomwaffen bleibt damit de facto möglich.

DDR-Außenminister Meckel (SPD) hält der Nato entgegen, daß „Europa heute keine Atomwaffen für seine Sicherheit benötigt. Deshalb lehnen wir für Deutschland die Stationierung, aber auch Herstellung, Weitergabe, Besitz und Transit solcher Massenvernichtungsmittel ab.“

Auch Ministerpräsident de Maiziere bemängelte, daß die Nato „in manchen Punkten hinter unseren Erwartungen zurückblieb“. Ein genereller Verzicht auf einen Ersteinsatz von Atomwaffen hätte nach seiner Ansicht auch die Verhandlungen über die äußeren Aspekte der deutschen Vereinigung wesentlich leichter gemacht.

Entschieden euphorischer als sein Berliner Amtskollege bewertete Bundesaußenminister Genscher das Londoner Ergebnis. Die Nato habe die Fundamente für eine neue Sicherheitsordnung in Europa aufgezeigt, in deren Rahmen auch die äußeren Aspekte der deutschen Vereinigung befriedigend geregelt werden könnten, erklärte er gestern in einem Interview mit dem Hessischen Rundfunk.

dora