Der russische Wald verfällt dem Sex

■ Das Resümee über die Ergebnisse des Parteitages der KPdSU fällt nach Halbzeit noch mager aus, doch immerhin ist es Gorbatschow gelungen, die konservative Offensive abzustoppen

Aus Moskau Barbara Kerneck

Nach einer Woche hitziger Debatten hat der 28. Parteitag der KPdSU bis zum Sonntag kaum Ergebnisse gebracht. Trotz heftiger Angriffe auf die Staats- und Parteiführung schaffte es Gorbatschow zwar, sich als Integrationsfigur anzubieten und vorerst sowohl die Spaltung der Partei zu verhindern wie auch seine Wiederwahl zu ermöglichen, doch wurden weder in der Sache noch personell entscheidende Weichen gestellt. Immerhin gelang es Gorbatschow, die Forderung der Konservativen, einzeln über die Politbüromitglieder abzuzstimmen, abzuwenden. Doch auch wenn die Konservativen Gorbatschow selbst schonten, in ihrer Kritik an dem Gorbatschow-Berater Jakowlew ließen sie die Hosen runter. Ihre Schmerzpunkte, die deutsche Einigung, die baltischen Unabhängigkeitsbestrebungen und das Auseinanderbrechen des Warschauer Pakts wurden in der Kritik an Jakowlew sichtbar. Doch viele Delegierte wußten auch zu differenzieren. So war es bemerkenswert, daß Außenminister Schewardnadse mit seiner positiven Bewertung des deutschen Einigungsprozesses mehr Beifall als sein Kontrahent Ligatschow erhielt. Vielleicht auch deshalb, weil der den Nato-Gipfel positiv bewerten konnte.

Die Reformer unter Jelzin blieben in der schwächeren Position. Ob sie noch die Chuzpe haben, die Partei zu spalten, wie es von ihnen angekündigt wurde, ist dahingestellt. Beispiellos ist die Entscheidung des ukrainischen Parlaments, seine Delegierten am Samstag zurückzubeordern, angeblich weil ein Streik der Bergleute drohe. Und beispiellos war es auch, als es am Samstag einer Gruppe von Tschernobyl-Opfern gelang, in den Kreml vorzudringen, um auf ihre Not und den schleichenden Tod in den von der „Havarie“ betroffenen Gebieten hinzuweisen.

Und noch etwas: Nach über einer Woche Nabelschau war das Hauptproblem - die Partei und ihr gebrochenes Verhältnis zur Demokratisierung - immer noch nicht angesprochen worden. Dagegen setzte sich der Schwall kleinlicher Beschwerden, die Meckerei über die Reformpresse über viele Tage fort. Zwar erzielte ein Delegierter vom Lande mit seinem Spruch, „der russische Wald verfällt dem Sex“ bei allen Delgierten einen Heiterkeitserfolg, doch andere, prinzipielle Aussagen zur Demokratie waren an einer Hand abzuzählen.

Eine Ausnahme bildete, wie sollte es anders sein, Boris Jelzin. Indem er hervorhob, der Parteitag könne nicht für die Basis sprechen, sondern lediglich über die Parteispitze entscheiden. Wenn der Apparat nicht bereit sei, wahrhaft demokratische Bedingungen zu akzeptieren, werde er unvermeidlich aus allen Sowjets vertrieben. Denn das ganze Volk werde für dieses Ziel, auch für die Verstaatlichung des Parteivermögens, kämpfen. Die Partei müsse das Mehrparteiensystem akzeptieren, sich in eine Partei des demokratischen Sozialismus umwandeln, auf allen Ebenen neue Führer wählen und auf alle staatlichen Funktionen verzichten. Obwohl für die meisten Delegierten eine Ohrfeige, stieß der Vorschlag des Leningrader Parteivorsitzenden Boris Gidaspow vom Samstag, Jelzin zu einem Vizeparteivorsitzenden zu wählen, nicht sofort auf Ablehnung.

Auch der Leningrader Bürgermeister Alexander Sobtschak beklagte sich: „Die Partei ist immer noch gewohnt, außerhalb des Gesetzes zu existieren. Und es ist Zeit, damit Schluß zu machen. Wenn in Zukunft irgendein Angestellter des Leningrader Exekutivkomitees (der Stadtregierung, Anm. der Red.) von Parteifunktionären Befehle entgegennimmt, werden wir ihn entlassen.“

Um Eigentum und Privilegien und das moralische Verhältnis der Kommnunisten zu ihrer Aufgabe kreiste am Freitag vormittag der Vortrag des Vorsitzenden des Verbandes der Theaterschaffenden, Michail Uljanow, der für das sowjetische Kinopublikum über viele Jahre die Verkörperung Lenins bedeutete. Seine Ausführungen glichen passagenweise einer Publikumsbeschimpfung und wurden von entsprechendem Zischen und Murren begleitet. Uljanow sprach von einem „gogolschen Personenkreis, der seine Leere mit Orden und Anstecknadeln überdeckt“. Leider hätten sich in dieser Atmosphäre nicht die Politiker entwickeln können, die das Land heute brauche: „Heute, wo das Leben ruft, kann man die Führer an den Fingern abzählen: Gorbarschow und Jelzin, Popow und Sobtschak. Sobtschak und Popow, Jelzin und Gorbatschow“, jammerte Uljanow unter lautem Gelächter. Als erster sprach er das Thema der Politbürowahl an, das dieses ganze Forum unterschwellig beschäftigt: „Unter diesen Umständen Gorbatschow nur den Präsidentenposten zu lassen und ihm den Posten des Generalsekretärs zu nehmen, ist ein ein schwerer Schlag gegen die Perestroika und gegen die Demokratie.“ Die Hoffnungen, die die ganze Welt mit der Person Gorbatschows verbinde, so Uljanow, wirkten auch als innenpolitische Garantie.