Plötzlich war Knoblauchgestank in der Luft...

■ Im Ostberliner Klinikum Buch werden schwerverletzte Giftgasopfer aus Kurdistan gepflegt / Die Erinnerungen an die Bombardements der irakischen Luftwaffe interessieren fast niemanden mehr / Ein Besuch in der Jacob-Morenga-Station

Buch. Mit seinem Victory-Lächeln begrüßt Yassir Arafat die Besucher im Treppenhaus. Das Konterfei des Palästinenserführers ziert eine Fotocollage am Eingang eine Hommage an die PLO im Ostberliner Klinikum Buch, Krankenstation „Jacob Morenga“. Auch die Poster im Stationsflur machen schnell deutlich, wer hier behandelt wird: Patienten aus sozialistischen Ländern der Dritten Welt und Angehörige von Befreiungsbewegungen.

In Omars Zimmer sind die Wände kahl - bis auf die Bleistiftzeichnung eines Ninja-Kämpfers. Draußen im idyllisch ruhigen Innenhof herrscht strahlendes Sommerwetter. Omar meidet die Sonne, Hemd und Trainingshosen verdecken die Brandnarben auf seiner Haut, die keine Wärme oder gar Hitze mehr erträgt - seit dem 23. März 1988.

An diesem Tag überflogen acht Jagdbomber der irakischen Luftwaffe das kurdische Dorf Chalachsa und feuerten sechs Raketen ab. Kein Explosionsgeräusch war beim Aufprall zu hören, erzählt Omar, nur ein leises Plopp, „als ob man eine Tüte platzen läßt“. Die Luft war plötzlich von Knoblauchgestank erfüllt - ein heimtückisch harmloser Geruch für Giftgas. Von den 600 Menschen in Chalachsa erstickten mehr als zwanzig sofort. Andere starben Tage später an den Verbrennungen. Helfer schleppten ihn und andere Opfer über die Grenze in den Iran. Zwei Jahre verbrachte er, gerade 24 Jahre alt, dort in Krankenhäusern, auch „Siechenheime“ genannt. Eine Behandlung findet mangels Medikamenten, Instrumenten und geschultem Personal nicht statt. Bestenfalls bahnt sich alle paar Tage ein Arzt den Weg durch das Bettenlager, um kurze Berichte zu verfassen. Omar jedoch braucht, wie Hunderte andere auch, dringend ärztliche Behandlung seiner Verbrennungen. - Anfang Juni kam die Nachricht, eine Klinik in Deutschland, in Berlin, würde ihn und neun andere aufnehmen.

Erst der Untergang

der SED brachte die

Kurden nach Buch

„Wir haben diejenigen genommen, die am schlimmsten dran sind“, sagt Christian Pross, Mediziner und Mitglied der Berliner Ärztekammer, die zusammen mit dem Solidaritätskomitee der DDR die Rettungsaktion gestartet hatte. Das Komitee besorgte Visa für die Patienten und finanziert die Behandlung im Klinikum Buch. Seit zwölf Jahren werden in der Station „Jacob Morenga“ des Klinikums Opfer von Bürgerkriegen und militärischen Konflikten medizinisch versorgt - Mosambikaner, Palästinenser, Angolaner und andere. In Ländern der Dritten Welt hat die Klinik einen ausgezeichneten Ruf. Ausschlaggebendes Kriterium für die Behandlung war - wie auch bei der Asylgewährung - unter dem SED-Regime politische Konformität. Aufgenommen wurden Mitglieder von Armeen, Organisationen und Befreiungsbewegungen, mit denen die SED sozialistisch -brüderliche Beziehungen unterhielt. Verfolgte Kurden aus dem Irak gehörten nicht dazu - im Gegenteil: Die Kontakte zwischen Bagdad und Ost-Berlin liefen bis zum November zur beiderseitigen Zufriedenheit - auch zwischen den Geheimdiensten. Daß jetzt Opfer des ehemals befreundeten Regimes im Irak Hilfe erhalten, will das Komitee nicht nur als humanitäres, sondern auch als politisches Signal verstanden wissen.

Der Weg nach Ost-Berlin ist ein unsicherer

Auf zehn Patienten aus dem Irak hat sich die Station eingerichtet. Vier sind bislang eingetroffen. Hiwal, Omars Zimmergenossen, gelang die Reise erst beim zweiten Mal. Der erste Versuch endete Anfang Juni abrupt in Griechenland. Die Flughafenpolizei, offenbar angesichts der Reisepapiere mißtrauisch geworden, holte sieben Kurden, sechs davon querschnittsgelähmt, in Athen aus der Maschine. Im Verhörraum setzte es Prügel. „Sie haben sogar die Hunde auf uns losgelassen.“ Nach vier Tagen Haft wurden sie nach Damaskus abgeschoben. Hiwal, schwer herzkrank, aber der einzige, der laufen konnte, machte sich ein zweites Mal auf den Weg und landete wenig später sicher auf dem Flughafen Schönefeld. Über den Verbleib der sechs anderen kann man bei der Ärztekammer momentan keine Auskunft geben. „Wir hoffen und erwarten sie eigentlich täglich“, sagt Pross.

Die grausamen Folgen des Giftgaskriegs

Auch zwei Jahre nach dem Angriff haben die Patienten in Buch noch Giftrückstände in ihrem Körper. Sie leiden unter Apathie, Schwindel- und Schwächeanfällen und Gedächtnisstörungen, es droht der Verlust der Sehkraft, der bis zum Erblinden führen kann - schließlich die immer wiederkehrenden Schmerzen durch die Hautverbrennungen. Hauttransplantationen sollen für Linderung sorgen. Eine medizinisch und menschlich vorbildliche Versorgung ist in Buch garantiert, „was fehlt“, sagt Christian Pross, „ist die psychologische Betreuung“. Ein Rehabilitationszentrum für Folter- und Kriegsopfer ist im Westteil der Stadt in Planung - es wäre eine ideale Ergänzung zur medizinischen Abteilung in Buch, vorausgesetzt, diese fällt im Vereinigungsprozeß des deutschen Gesundheitswesens nicht dem Rotstift zum Opfer. Noch sind die Westberliner Pläne Zukunftsmusik.

Die Erinnerungen

der Opfer interessieren

kaum jemanden

Mit dem Schock des Gasangriffs, den Alpträumen von verseuchten und unbewohnbaren Dörfer, der Erinnerung an ermordete Familienmitglieder und Freunde müssen die vier Kurden alleine fertigwerden - auch mit der Verbitterung darüber, daß sich nur noch ein paar Menschenrechtsgruppen für den Massenmord des Regimes in Bagdad interessieren. Omar hat vier Giftgasangriffe überlebt. Die Erinnerungen sind unauslöschbar. Wie ein Film laufen sie in seinem Kopf ab. „Ich wünschte, mein Gehirn wäre eine Videokamera, dann könntet ihr alles mit eigenen Augen sehen.“

Draußen ist ein schöner Sommernachmittag angebrochen. Omars Hemd ist an einigen Stellen durchgeschwitzt. Auf dem Bett liegt eine Landkarte, auf der er die mit Giftgas bombardierten Dörfer rekonstruiert hat. Glücklich sei er, hier in der Klinik zu sein. Aber er wäre lieber als Tourist gekommen.

Andrea Böhm