Eine Nacht voll Gewühl und Härte

■ Gesamt-Berlin im Weltmeisterrausch: Ausländerbespucken in Lichtenberg, Gegrummel am Alex, fröhlicher Taumel am Ku'damm

Berlin. Sie waren in Siegerstimmung, die acht Jugendlichen gestern morgen am Bahnhof Lichtenberg. Es wurde gebrüllt, gejohlt und gespuckt - hätte es wieder einmal Rudi Völler getroffen, die Knüppel der anwesenden Transportpolizisten wären ohne Zögern zum Einsatz gekommen. Aber es waren „bloß“ ein paar Rumänen, die sich da den Speichel vom Gesicht wischen mußten. Statt „ole-ole“ ertönte „Dreckspack, aufstehen!“, einer nebelte die Flüchtlinge mit Reizgas ein. Keine Reaktion auf seiten der Trapos. Erst als ein anderer mit Pistole a la Schimanski vor den Rumänen in Stellung ging, griff ein Trapo ein und schiebt den Arm des Möchtegernschützen zur Seite. Den Bahnhof müssen auf Geheiß der Polizei schließlich die Rumänen verlassen. Die Jugendlichen triumphieren lauthals: „Hooligan, Hooligan, Deutschland, Deutschland!“

Szenen, die in der Nacht zum Montag von zwei Ostberliner Studenten beobachtet wurden. Am Alex sahen die Fronten dagegen anders aus. Hier standen sich Fußballfans und Volkspolizisten gegenüber, beschimpften sich gegenseitig. Unter den Fans gemischtes Publikum, vom sieges und alkoholtrunkenen Pärchen mit Schultheiss-Dose bis zu Skinheads mit „Deutschland in den Grenzen von 1937“ als Aufnäher auf den Schultern. Was sie in dieser Nacht einte, war ein Elfmetertor und grenzenloser Haß auf „ihre“ Polizei. Die ließ sich stundenlang von der Einsatzleitung rat- und rastlos von einem Bahnhofseingang zum anderen scheuchen. Während seine Kollegen zwei nagelneue Bügeleisen, Hauptpreise aus dem Lotteriekiosk, wieder in die zertrümmerte Auslage zurücklegten, machte einer seiner Wut Luft. Nicht mal das Endspiel habe er sehen können, „und jetzt noch diese Scheiße hier“. Hinter seinem Rücken skandierten Jugendliche „Bullen raus!“, Angst vor einem Schlagstockeinsatz schien keiner zu haben. „Die Bullen im Westen halten sich raus“, sagte einer anerkennend, „oder sie schlagen richtig zu. Und jetzt guck dir mal die Lahmärsche an.“

In der Schönhauser Allee gerieten die so Gescholtenen richtiggehend zwischen die Fronten, als sie ein besetztes Haus abriegelten. 200 zum Teil mit Eisenstangen bewaffnete Rechtsradikale waren nämlich drauf und dran, das Haus zu stürmen, die Bewohner bewarfen sie mit Steinen. Bilanz der Nacht im gesamten Ost-Berlin: Zwölf Personen wurden festgenommen und saßen noch am Montag in Polizeigewahrsam, drei wurden schwer und zahlreiche Menschen leicht verletzt.

Im Tempodrom im Westteil der Stadt verfolgten mehrere tausend BesucherInnen das Endspiel im Zelt auf der Leinwand. Erschienen waren aber nicht nur das übliche Szenepublikum, sondern auch einige Dutzend Hooligans, die drinnen und draußen ihre mitgebrachten „Reichskriegsflaggen“ schwenkten

-solche Embleme sind nach alliiertem Recht in Berlin verboten. Als die Nationalhymne erklang, stand ein Teil der BesucherInnen ehrfurchtsvoll von den Holzbänken auf, der größere Teil jedoch versuchte, das „Lied der Deutschen“ mit Pfiffen und Buhrufen zu übertönen. Zu gewalttätigen Auseinandersetzungen kam es nicht, die Stimmung war alles in allem eher ausgelassen als chauvinistisch.

Ausgerechnet beim Anzeigen des Spielergebnisses traf es dann die elektronische Wandzeitung Avnet am Ku'damm. Sie verschmorte nach dem Treffer einer Feuerwerksrakete. Etwa 100.000 BerlinerInnen aus Ost und West eilten nach dem Schlußpfiff zu Berlins größter Einkaufsmeile, um hier bei Sekt und Bier, Knallkörpern und Leuchtkugeln den Sieg „unserer“ Mannschaft zu feiern. Über hundert Autos sowie diverse Vitrinen und Schaufenster fielen der deutschen Jubelparty zum Opfer, zehn Personen wurden festgenommen. Völlig aufgelöst taumelten sie dahin, die vom Bier geformten Körper, „ole-ole-ole-ole!“ - und selbst ein Trupp amerikanischer Austauschschüler ließ sich von der allgemeinen Begeisterung anstecken: „Germans are the best soc- cers of the world!“ Eine junge Japanerin bahnte sich den Weg durch die bewegten Massen, an der Hand ihr in ein Deutschlandtrikot gezwängtes Kind, ein junges Paar fiel sich, zu Tränen gerührt, in die Arme, und immer wieder: „Deutschland!“

„Die spinnen, die Deutschen“, tönte es aus dem Funk eines Taxis, die an diesem Abend nur äußerst spärlich unterwegs waren. Kommentar des Fahrers: „Entweder die gehören selbst zu diesem deutschnationalen Pack, oder sie haben keine Lust, dieses Pack zu fahren!“ Sowohl Fußgänger als auch Autofahrer standen an diesem Abend an der Schwelle zur Lebensgefahr: Betrunkene torkelten ungebremst auf die regennasse Straße, ein Deutscher türkischer Nationalität baute sich vor einer Ampel auf und schmetterte sein „Sieg, Sieg!“ in Richtung der hellerleuchteten Scheinwerfer. Lebensgefährliche Verletzungen erlitt ein 19jähriger Spandauer, der am Ku'damm mit etwa zwanzig anderen Fans in einen später als gestohlen gemeldeten Lieferwagen eingestiegen war: Auf dem Weg nach Schöneberg kam das Auto unter den Yorckbrücken von der Fahrbahn ab und streifte einen Brückenpfeiler. Die Schiebetür des Wagens wurde herausgerissen, vier Insassen wurden aus dem Wagen geschleudert und schwer verletzt. Laut Polizeibericht raste der Fahrer weiter, ohne sich um die Verletzten zu kümmern.

anb/ccm/maz/usche