Traumatische Erinnerungen

■ Ludwig Metzgers Dokumentarfilm „Leben - Vivre - Zizn - Der Gestapo entkommen“, 23 Uhr, ARD

Deutsche Worte, kommandierende Worte. Wie herzlos die Sprache nationalsozialistischer Folterknechte war, wird deutlich, wenn der russische Gestapohäftling Kurow Askold die wenigen deutschen Worte, die er behalten hat, so unendlich sanft ausspricht. Es sind Worte des Befehls, andere hat er nicht gelernt. „Waschen! Sauber machen! Mund zumachen!“ Jetzt benutzt er sie, um seinem Gesprächspartner zu zeigen, wie sehr er sich über den Besuch aus der Bundesrepublik freut. Eine beklemmende Situation, erhellend und erschreckend zugleich.

Der fremde Gast in Askolds Haus kam überraschend nach Usbekistan, aber genauso überrascht war auch der Gast selbst. Der Filmautor Ludwig Metzger hatte Kurow Askold in einem jener namenlosen Massengräber gewähnt, in denen während der letzten Kriegstage Tausende sowjetischer Zwangsarbeiter verscharrt worden waren. Vor drei Jahren war Ludwig Metzger dem Terror im El-De-Haus, dem Sitz der Kölner Gestapo, nachgegangen und stieß dabei auf „Die Zeichen an der Wand“ - Inschriften, hinterlassen von verzweifelten Häftlingen, gekritzelt auf die kahle Zellenwand mit Bleistiftstummeln, Lippenstift oder Glasscherben. Hilferufe voller Todesangst.

„Heute ist der 3.2.. Vierzig Leute wurden gehängt. Wir haben schon 43 Tage gesessen. Das Verhör geht zu Ende, jetzt sind wir mit dem Galgen an der Reihe. Wir bitten diejenigen, die uns kennen, unseren Kameraden auszurichten, daß auch wir in dieser Folterkammer umgekommen sind.“

Diese Abschiedszeilen hatte Kurow Askold auf die Wand geschrieben. Ludwig Metzger ging davon aus, daß ihm das gleiche Schicksal widerfahren war wie 788 anderen Häftlingen - Tod vor einem Hinrichtungskommando der Nazis.

Durch einen glücklichen Zufall ist es Metzger jetzt nicht nur gelungen, den verschollenen Russen wiederzusehen, sondern auch ein anderes Opfer der Kölner Gestapo aufzufinden: die Französin Marinette, deren Tochter Christiane im Januar 1945 zur Welt kam. Wie die beiden Gefangenen überlebt haben, schildert Metzger in seinem neuen Film. Aber Marinette möchte nicht mehr an die grauenvollen Tage der Inhaftierung zurückdenken; nur die Tochter ist bereit, vom Schicksal der Mutter zu erzählen und sich die Inschrift in der Zelle im Gestapogefängnis anzuschauen. Kurow Askild dagegen empfängt den deutschen Autor mit offenen Armen. „Vielen Dank, du machst eine wichtige Sache, damit die Leute es erfahren und die tragischen Tage nicht vergessen, die Kriege mit sich bringen“, sagt er.

Zwischen diesen beiden Polen, dem Schweigen der Französin und der Auskunftsfreude des Russen, bewegt sich der Film. Ludwig Metzger weiß um die traumatische Erfahrung seines Interviewpartners und läßt Fragen und Antworten viel Raum. Das befreit nicht von der Qual des nochmaligen Durchlebens der Haft und der Zwangsarbeit, aber es entsteht auch nicht die Gefahr, daß sich die Situation wie ein erneutes Verhör gestaltet. So werden die Zeichen an der Wand, die bisher nur als Gravuren des Schreckens zu deuten waren, plötzlich zu hoffnungsvollen Zeichen. Lebenszeichen.

Christof Boy