In Ueckermünde ist jetzt schon alles anders

■ Und dennoch bleibt vieles, wie es immer war / Ein Provinzstädtchen der DDR im Wartestand / Schon hat die neue Zeit begonnen, die Verhältnisse der Menschen untereinander zu verändern / Erste spontane Besetzungsaktion in der Geschichte des Landkreises richtete sich gegen FDGB-Bonzen

Von Martin Kempe

In der Ferne jenseits des Haffs hebt sich schemenhaft die Insel Usedom ab. Die Sonne verliert sich am späten Nachmittag im Dunst, und die wenigen Badegäste am Strand der Ostseestadt Ueckermünde packen ihre Sachen ein. Das Strandcafe hat schon geschlossen.

Noch haben die Einheimischen den Strand für sich. Und es gibt Befürchtungen, daß es in diesem Jahr auch so bleibt. Denn die Werktätigen der DDR streben im ersten Jahr nach Öffnung der Grenzen in die Ferne. Nur wer das frische DM -Konto schonen will, greift wie all die Jahre zuvor auf die von den Betrieben vergebenen billigen Ferienhäuschen in Strandnähe zurück, die jetzt noch mit geschlossenen Gardinen auf die Gäste warten.

„Wir hoffen auf den Tourismus“, sagt Eckard Zabel. Der 36jährige Heizungstechniker war aktiver Naturschützer und an den Demonstrationen beteiligt, die auch in Ueckermünde die Wende mitherbeigeführt haben. Jetzt ist er Leiter der Gebietsgeschäftsstelle der IG Metall im Kreis Ueckermünde. Mit dem Fremdenverkehr könnten vielleicht die zu erwartenden Arbeitsplatzverluste in der Industrie ausgeglichen werden. Doch die Hoffnung auf zahlungsfähige Ferienkundschaft ist langfristig. Noch gibt es kaum Hotels und Pensionen, von sonstigen touristischen Angeboten für den verwöhnten West -Urlauber ganz zu schweigen. Nur die weitläufigen Wälder des Landkreises sind noch konkurrenzlos einsam.

Die Stadt Ueckermünde am kleinen Haff im Nordosten der DDR ist ein landschaftliches Kleinod. 14.000 Einwohner leben hier, die Mehrzahl außerhalb der unscheinbaren Altstadt in den Neubauvierteln. Insgesamt sechs Stasi-Objekte sind in der taz-Liste ausgewiesen, davon zwei im Neubauviertel: konspirative Wohnungen.

Hier kennt jeder jeden. Man spricht noch viel von der allumfassenden Kontrolle, die aber nicht so bedrohlich war wie anderswo im Land. Jetzt, sagt Eckard Zabel, haben die Menschen andere Sorgen: Bei der Firma Sirokko in Torgelow, zwanzig Kilometer von Ueckermünde entfernt, berichtet er, sollen 161 Leute rausgesetzt werden. Er konnte eine Verschiebung um drei Monate durchsetzen, aber einen verabschiedeten Sozialplan gibt es noch nicht. „Und das ist kein Einzelfall“, berichtet der seit Anfang Februar amtierende Gewerkschafter.

Beim Betriebsrat sind die Wände noch kahl

Im Betriebsratsbüro der Vorpommerschen Eisenwerke in Ueckermünde sind die Wände noch kahl. Keine Plakate, nicht die in entsprechenden westlichen Betriebsratsbüros obligatorische IG-Metall-Sonne, nichts. Ein Schreibtisch, davor ein längs aufgestellter Tisch für Besucher. Ein Betriebsratsbüro der neuen Art. Helle Vierecke auf der Tapete deuten früheren Wandschmuck an. Bis Ende Mai hat hier der Vorsitzende der Betriebsgewerkschaftsleitung residiert. Der sitzt jetzt als auslaufendes Modell im Nebenbüro und sortiert die Mitgliedsanträge für die inzwischen selbständige Industriegewerkschaft Metall.

„Mach das, Käthe“, sagt Hans Quade zu der vor ihm sitzenden Frau um die Fünfzig. Seit kurzem ist der frühere Ausbildungsleiter Vorsitzender des Betriebsrats der Vorpommerschen Eisenwerke GmbH, einem der größten Betriebe im Landkreis Ueckermünde. Eindringlich redet er auf die Frau ein, die mit hängenden Schultern um seinen Rat fragt: „Was soll ich denn machen?.“ Sie hatte bisher „in der Kultur“ gearbeitet, die betrieblichen Freizeitaktivitäten mitorganisiert. Dafür gibt es in der neuen Zeit keinen Bedarf mehr. Man hat ihr eine Halbtagsstelle als Telefonistin angeboten, in einer schlechteren Lohngruppe. Sie ist damit nicht einverstanden. „Jedenfalls hast du noch einen Arbeitsplatz“, erklärt Quade, und: „Wir müssen uns erst mal über den 1.Juli retten. Dann gilt auch für dich der Kündigungsschutz.“

Die Frau ist völlig verunsichert und versteht offensichtlich nicht. Ob sie dann vielleicht weniger verdient als wenn sie Arbeitslosengeld bekäme, fragt sie. „Du mußt jetzt an deinem Arbeitsverhältnis festhalten, Käthe. Wenn du erst mal raus bist, kommst du nie wieder rein“, erklärt der Betriebsrat die Regeln der neuen Zeit. Die Löhne würden ja auch bald steigen. „Dafür werden wir schon sorgen“, fügt Eckard Zabel von der IGM eifrig hinzu. Damit steige auch das Arbeitslosengeld. „Also unterschreib das“, sagt Quade noch einmal, als die Frau geht. Was sie tun wird, hat sie nicht gesagt.

Draußen wartet schon der nächste Ratsuchende. Auf dem Schreibtisch des Betriebsrats liegen abgegriffene Exemplare des Betriebsverfassungsgesetzes, des Kündigungsschutzgesetzes, offensichtlich ausrangierte Leihgaben westlicher Kollegen.

Fabrikwege auf öligem Untergrund

Ein festgefahrener, unter den Füßen elastisch nachgebender Ölbelag bedeckt zentimeterhoch die Wege innerhalb der Fabrik. „Hier liegen Tausende von Litern Öl, nur weil es unmöglich war, für ein paar Mark Dichtungsringe für die Motoren der Gabelstabler zu bekommen“, erklärt der Techniker Hans-Jürgen Eckenbrecht, inzwischen ebenfalls im Betriebsrat, beim Rundgang durchs Werk. Die Vorpommerschen Eisenwerke, seit ein paar Monaten eine GmbH im Besitz der Treuhand, stellt Rohrleitungsteile her, Fittinge aus Gußeisen. Rund 1.190 Leute werden hier derzeit noch beschäftigt.

In dem Werk bestehen zwei Welten nebeneinander. In den siebziger Jahren wurden zwei moderne, automatische Gußmaschinen im Westen gekauft. Mit deren Hilfe könnte man durchaus auch in Zukunft konkurrenzfähig in großen Serien produzieren. Für die kleineren Serien aber gibt es noch Einzelfertigung. Auf langen Förderzügen werden Eimer mit flüssigem Eisen zu den Gußformen transprotiert. Die Gefäße mit der glühenden Masse schwanken bedrohlich. Die rußgeschwärzten Gesichter der Arbeiter glänzen im Widerschein der flüssigen Glut, wenn die Formen von Hand ausgegossen werden wie vor hundert Jahren. „Wie im Backe -backe-Kuchen-Verfahren“, kommentiert Eckenbrecht, der im Werk für Wartung und Reparatur zuständig ist.

Noch gibt es Hoffnung aufs Überleben

Der Betrieb macht sich Hoffnung aufs Überleben. Natürlich muß die Produktivität gesteigert werden. Natürlich muß die Belegschaftgröße abgebaut werden. Die Pläne liegen schon in den Schubladen. Doch die Einschnitte bleiben maßvoll. „Keine 200“, sagt Fred Birte, seit kurzem Geschäftsführer, und rückt damit die Annahme des Betriebsrats zurecht, der von rund 250 anstehenden Entlassungen gesprochen hatte. Um rund 70 Beschäftigte wurde die Belegschaft bislang reduziert, ausnahmslos durch Verrentung. Wieviele von den 1.090 Frauen und Männern letztlich bleiben können, läßt Birte offen, klar ist aber, daß bestimmte „leistungsschwache Problemgruppen“ zur Entlassung anstehen.

Westliche Unternehmer haben sich bislang nicht blicken lassen. Die unmittelbare Konkurrenz sitzt in Velbert/Ruhrgebiet. „Die arbeiten mehr oder weniger mit denselben Maschinen“, berichtet Birte von seinem Besuch dort. Vor allem der Vertrieb muß neu aufgebaut werden. Früher hatte das Werk den DDR-Binnenmarkt für sich. Das wird sich schnell ändern. Schon jetzt stockt der Absatz. Tausende von Kisten mit inzwischen rostüberzogenen Fertigteilen stehen im Freien auf dem Werksgelände herum. „Dadurch werden sie auch nicht besser“, meint Hans-Jürgen Eckenbrecht beim Firmenrundgang.

„Früher haben wir auf Anforderung produziert, jetzt müssen wir auf Lager produzieren“, erläutert Geschäftsführer Birte die notwendige Umstellung: Wer nicht sofort liefern kann, ist weg vom Fenster. In Kooperation mit einem Westunternehmen wurde eine Vertriebsgesellschaft gegründet. Die soll in der Nähe Berlins eine Lagerhalle errichten und auf eigenes Risiko die Produkte der Vorpommerschen Eisenwerke vertreiben. Birte ist sich klar, daß er dieses Risiko auch bezahlen, also wahrscheinlich mit den Preisen runtergehen muß. Andererseits sollen die Löhne steigen.

Wie der Betrieb das verkraften wird? „Wir wissen alle noch nicht genau, was in den nächsten Monaten auf uns zukommt“, meint der Geschäftsführer unter zustimmendem Nicken des Betriebsrats.

Kameradschaftlicher Ton zwischen den Gegnern

Es herrscht ein kameradschaftlicher Ton zwischen Geschäftsführer und Betriebsrat. Alles geht per Du. Sie kennen sich seit Jahren. Die Gehaltsunterschiede sind immer noch minimal und konstituieren keine sozialen Schichtunterschiede. Als Birte das Betriebsratsbüro betritt, setzt er sich einfach in die Runde, auf den freien Platz am Schreibtisch des Betriebsratsvorsitzenden, schenkt sich Kaffee ein. Erst auf Nachfrage klärt sich, daß hier zukünftige Klassengegner einträchtig miteinander am Tisch sitzen.

Noch scheint der Betrieb eher einer Familie zu gleichen. Die Fronten zwischen Belegschaftsvertretung und Geschäftsführung sind noch verwischt. Noch wirken die Vergangenheit der sozialistischen Betriebsgemeinschaft und das gemeinsame Interesse am Überleben des Betriebes stärker als die absehbare Polarisierung zwischen Kapital und Arbeit. Betriebsrat und Geschäftsleitung fühlen sich gleichermaßen verpflichtet, den Beschäftigten zu einer möglichst sanften Landung in der künftigen Konkurrenzwirtschaft zu verhelfen.

Wenn Birte nicht der „Ökonom“ wäre, hätte er auch mit Hans Quade tauschen können. Nachdem die frühere Betriebsgewerkschaftsleitung jahrelang durch Nichtstun aufgefallen war, sollte eigentlich im Mai eine neue gewählt werden. Den Posten des Vorsitzenden hatte man einer Person zugedacht, die mehr gewerkschaftliches Engagement versprach als der Vorgänger: Fred Birte, dem jetzigen Geschäftsführer. „Er genießt das Vertrauen der Belegschaft“, sagen die Gewerkschafter einhellig.

Nun ist mit der schnellen Übernahme der bundesdeutschen Betriebsverfassung alles ganz anders gekommen, und Fred Birte wird die Kapitalrentabilität und das Profitprinzip gegenüber der Belegschaft durchsetzen müssen. Wird er, wenn nötig, den Konflikt mit dem Betriebsrat suchen, mit dem er jetzt noch so harmonisch und einvernehmlich zusammensitzt? Ein Blick hinüber zu Hans Quade, Schulterzucken. „Man kann das jetzt noch nicht sagen. Wir sind eigentlich optimistisch.“

„Komm, trink noch einen, Mädel“

Eine schwankende Gestalt nähert sich dem Tisch. Der Kollege ist seiner Stimme kaum mehr mächtig, als er sich gegenüber von Petra Israel schwer auf den Stuhl fallen läßt: „Nun sach du mir, was will die Gewerkschaft für uns tun?“ Ohne auf ihre Worte zu achten, schenkt er der Gewerkschaftssekretärin mit weit aushohlender Geste ein: „Komm, trink noch einen, Mädel.“ Aschenreste auf den weißen Tischtüchern, die Hausmeisterin fängt schon an, die leeren Flaschen abzuräumen. Das Ende einer Jubilarehrung für 25jährige Gewerkschaftsmitgliedschaft im holzgetäfelten Kultursaal der Vorpommerschen Eisenwerke.

„Diese Art Traditionspflege gehört wohl auch dazu“, stöhnt Petra Israel nachher, die ansonsten mit der gewerkschaftlichen Tradition in der DDR gründlich gebrochen hat: Treue zum Staat, zur Partei, zum jeweils übergeordneten Gremium innerhalb der mächtigen Bürokratie des immer noch bestehenden DDR-Gewerkschaftsbundes FDGB, das ist spätestens seit dem ersten Februar für sie vorbei. Seit diesem Tag versucht sie mit Eckard Zabel zusammen, nur unterstützt durch eine Bürokraft, eine neue IG Metall im Landkreis Ueckermünde aufzubauen. Zwei winzige Büroräume stehen ihnen zur Verfügung. Ab und zu kommt ein Helfer der IG Metall (West) aus dem Bezirk Hamburg vorbei und hilft den beiden bei Schulungsveranstaltungen für die in einigen Betrieben bereits neugewählten Betriebsräte und gewerkschaftlichen Vertrauensleute.

Während einer dieser Veranstaltungen ist es dann passiert: die erste spontane Besetzungsaktion in der Geschichte des Landkreises Ueckermünde: „IG Metall GewerkschafterInnen der Basis besetzten Gewerkschaftshaus in Ueckermünde, um Veruntreuung von Gewerkschaftsgeldern durch alte FDGB -Führung zu verhindern“, hieß es einen Tag nach der Aktion in einer Presseerklärung. „Wir haben von der Sauerei am 21.6. erfahren“, berichtet Petra Israel. Funktionäre des FDGB hätten begonnen, Mobiliar, Schreibmaschinen, Wertgegenstände in einem „Basar“ zu Schleuderpreisen vorzugsweise an sich selbst zu verkaufen - und dies mit Beteiligung von Mitgliedern des sogenannten Sprecherrats der Einzelgewerkschaften, der seit einiger Zeit die Geschäfte des FDGB auch in Ueckermünde geführt hatte.

Inzwischen ist die Aktion der Metallgewerkschafter schon längst nicht mehr Tagesgespräch in Ueckermünde. Die FDGB -Büros haben sie freigegeben, die kritisierten Personen gehen wieder ihren Geschäften nach. Mit Anschuldigungen und Gegenbeschuldigungen wird sich das örtliche Gericht beschäftigen müssen. Eckard Zabel, vorher eines der drei Mitglieder des Sprecherrats, ist sofort zurückgetreten und will mit diesem scheinerneuerten Gremium nichts mehr zu tun haben. Im zweistöckigen Gewerkschaftshaus am Ueckermünder Hafen ist wieder der Alltag eingekehrt - ein Alltag in Feindschaft.

Obwohl der FDGB samt seiner Bürokratie auch in der Ueckermünder Provinz zu Ende September aufgelöst wird, weigern sich die verbliebenen FDGB-SprecherInnen, schon jetzt wenigstens einen Teil ihrer Räume für die gewerkschaftliche Aufbauarbeit zur Verfügung zu stellen. Die IG Metall als größte der Einzelgewerkschaften hat inzwischen rund 9.000 Mitglieder aufgenommen. Sie sind weit verstreut über den Landkreis. Aber die beiden Sekretäre können sich nicht vor Ort um die Betreuung kümmern, weil sie kein Auto zur Verfügung haben.

Währenddessen steht das FDGB-Auto, Marke Wartburg, ungenutzt vor der Tür. „Die alten Strukturen bestehen immer noch“, meint Petra Israel, auch wenn sie sich eigentlich nur noch selbst verwalten. Und sie befürchtet, daß sich auch in Ueckermünde vieles davon in die Westgewerkschaften hinüberretten wird.

Die neue Zeit hat schon begonnen

Noch ist vieles wie immer in den letzten Jahren in dem Provinzstädtchen am Haff, und doch ist alles anders. Die alte Zeit hat sich noch nicht verabschiedet, aber die neue hat schon begonnen, die Verhältnisse der Menschen untereinander zu verändern. Der Kioskverkäufer am Strand hat - wenige Tage vor der Währungsunion - noch kaum Westwaren in den Regalen. „Ich verkaufe erst mal unsere Produkte“, meint er. Obwohl er weiß: „Die Westwaren schmecken besser und sind schöner verpackt.“ Aber „man kann doch nicht alles wegschmeißen“. Viel wäre es nicht mehr, ein paar Keksrollen, ein paar Flaschen Club-Cola. Ihn stört, daß die Leute alles „schlecht machen, was von uns kommt“, doch selbstverständlich wird auch er anbieten, was verlangt wird.

In den Schilfgürteln tummeln sich die Wasservögel. Und dreimal im Jahr, erzählt Zabel, „blühen im Haff die Algen“. Die Überdüngung der Landwirtschaft und die Abwässer der Stadt, die in den Kläranlagen nur vermischt statt gereinigt werden, sind der Grund. Das Wasser ist brackig. In grünen Schlieren schwappt der unappetitliche Algensud träge ans Ufer. Vor der befestigten Mündung der Uecker zieht ein größeres Motorboot seine Bahn. „Das gehört inzwischen einem Unternehmer“, weiß Zabel. Der hat es kürzlich für 30.000 DDR -Mark einem Betrieb abgekauft. Für Betriebsausflüge, Abteilungfeste, für die kleinen Vergnügungen der Beschäftigten mögen die Firmen jetzt kein Geld mehr ausgeben. Nein, kein Westunternehmer, einer aus der DDR, der jetzt seine große Chance sieht und sich schon mal mit den notwendigen Statussymbolen ausstattet.