„Wir sind zu dünn“

■ Auch Vietnam verfiel dem Fußballwahn

PRESS-SCHLAG

Die Straßen von Hanoi und die sonst so vollen Restaurants und Discos sind völlig verlassen. Jeder ist zu Hause, um das Weltmeisterschaftsfinale anzuschauen, das für Vietnams Städtebewohner eines der wichtigsten Ereignisse des Jahres 1990 ist. Es ist das erste Mal, daß ein internationales Sportereignis direkt im vietnamesischen Fernsehen übertragen wird. Für den vietnamesischen Normalbürger Inbegriff der liberalen Reform.

Fußball war zum Schluß das Thema jeder Diskussion, in Abweichung von der normalen Praxis kam bei formellen Meetings, sobald die Vorstellung vorüber und der zeremonielle Tee serviert war, das Thema auf den Tisch, wer wohl Weltmeister werde. In Hanoi war es in den letzten Tagen unmöglich, ein Fernsehgerät zu erwerben, seit Wochen sind alle ausverkauft. Der Bierkonsum erreichte astronomische Höhen, Fußballparties wurden zum „way of life“.

Viele Vietnamesinnen und Vietnamesen blieben die Nacht über auf, um auch das zweite Spiel anzusehen, das hier morgens gegen 4 Uhr 30 endete, zwei Stunden, bevor die Menschen zur Arbeit gehen. Die Werktätigen Hanois liefen in der letzten Zeit ziemlich triefäufig herum, und die Bürokratie funktionierte noch langsamer als ohnehin schon, weil die Beschäftigten versuchten, den verlorenen Schlaf während des Tages nachzuholen. Die Arbeitsleistung ist nach Angaben des Planungsministeriums drastisch gefallen. „Der Fußball war nicht gut für die Produktion“, sagt ein schläfriger Regierungsbeamter, der ebenfalls in den Bann des Fußballs geraten ist.

Auf dem Land war es ähnlich, Kinder waren zu müde, zur Schule zu gehen, aber der Fußball hat auch einen neuen Wirtschaftszweig hervorgebracht. Eine neue vierseitige Nachmittagszeitung mit den letzten Ergebnissen, Aufstellungen, Tips und Fotos verkaufte in Hanoi Zehntausende von Exemplaren, und auch in Ho-Chi-Minh-Stadt wurde eine eigene Ausgabe vertrieben. In ganz Vietnam sind rote „Italia 90„-T-Shirts der letzte Schrei, sogar in entlegenen Bergregionen, wo ihre Träger noch nie ein Fußballspiel gesehen haben. In einem völlig abseitigen Dorf genau auf dem 17. Breitengrad, der früher Nord- und Südvietnam teilte, fragt mich eine achtzigjährige Frau, ob ich einer dieser Fußballer wäre, über die alle reden. Als ich verwundert gucke, lacht sie und sagt: „Jeder schaut sie an, aber ich habe kein Fernsehen. Sie sind eine neue Art von Ausländern, scheint mir.“

Nicht jeder betrachtet Fußball als etwas Außerirdisches. Zweijährige Kinder kicken den ganzen Vormittag Bälle in den Parks und Straßen herum. Und die, die zu arm sind, die echten Spielgeräte zu kaufen, die eine neue aufstrebende Industrie in Hanoi vertreibt, verwenden selbstgemachte Bälle aus Coladosen und ähnlichem.

Niemand glaubt jedoch, daß Vietnam ein Team aufstellen kann, daß gut genug für das nächste WM-Turnier ist. „Wir sind zu dünn“, sagt grimmig ein Ingenieur, hauptsächlich eine Folge der Armut in den sechziger Jahren, als 60 Prozent der Kinder unterernährt waren. „Vielleicht im 21. Jahrhundert“, sagt sein Boß, der Bezirksbürgermeister.

Die Fernsehübertragung der WM spiegelt den Wandel in Vietnam wider und die neue Offenheit des Landes dem Rest der Welt gegenüber. Den meisten Vietnamesen hat der Fußball jedoch geholfen, die Mühsal des täglichen Lebens zu vergessen und einen Traum vom Ruhm zu träumen, der, wie sie hoffen, ein Vorbote der Zukunft war. Nun muß Vietnam wieder zur Normalität zurückkehren, aber so wie früher wird es nie mehr sein.

Larry Jagan