Frankreich trauert dem alten Europa nach

■ Die Wiedervereinigung Deutschlands zwingt Frankreich zur Bestandsaufnahme in der Sicherheits- und Europapolitik / Aber die politische Führungsschicht verschanzt sich hinter den traditionellen gaullistischen Positionen / Das Verhältnis zu den Staaten Süd- und Osteuropas bleibt unbestimmt

Von Harald Bauer

Mehr als jede andere Macht war Frankreich am Status quo in Europa orientiert. Die deutsche Teilung entledigte es seines größten Sicherheitsproblems ganz im Sinne der französischen Politik seit dem 17. Jahrhundert: am liebsten hatte man viele deutsche Teilstaaten auf der anderen Rheinseite - sie waren leichter zu kontrollieren. Der Fortbestand der durch die Supermächte garantierten Sicherheit galt so sehr als feste Größe, daß Frankreich nun sicherheits- und europapolitische Konzepte fehlen, die der neuen Situation Rechnung tragen.

„Müssen die Franzosen Angst vor Deutschland haben?“, „Muß man Angst vor der Wiedervereinigung haben?“, „Großdeutschland. Der Blitzkrieg Kanzler Kohls zur Vereinigung Deutschlands provoziert Bitterkeit in der DDR und Unruhe in Westeuropa“. So lauteten die Titel einiger französischer Zeitschriften vor einem halben Jahr. Zwar war die vorwiegende Antwort, man müsse vor einem vereinigten Deutschland keine Angst haben, doch gab es auch recht bittere Stimmen.

An französischen Vorschlägen für den Umgang mit dem vereinten Deutschland fehlte es. Statt Ideen gab es Glaubensbekenntnisse oder weinerliche Befürchtungen wegen der wirtschaftlichen Überlegenheit und der Hinwendung nach Osten, das paßte so gar nicht zum Bild einer selbstbewußten Grande Nation. Da macht auch Mitterrands Silvestereinfall einer „europäischen Konföderation“ keine Ausnahme, der zudem den Vorteil hat, nicht präzisiert und somit nicht angreifbar zu sein. Am 10.Mai brachte Mitterrand ein europäisches Generalsekretariat ins Spiel, doch gab er wiederum keinen Rahmen an. Das einzige erkennbare Kennzeichen ist ein gaullistisches: es soll eine rein europäische Konföderation sein, wenngleich nicht geklärt ist, ob die Sowjetunion dazugehört oder nicht. Die USA sollen jedenfalls draußen bleiben.

Auch der einzige Entwurf aus Frankreich zur neuen europäischen Sicherheitsordnung, veröffentlicht in den 'Blättern für deutsche und internationale Politik‘, ist gaullistisch, will er doch neue Sicherheitsstrukturen ohne die beiden Supermächte aufbauen. Im übrigen ist sein Autor ein seit langem in Frankreich lebender Deutscher, Walter Schütze, der in der politischen Klasse Frankreichs als Außenseiter gelten muß.

Diese Leere hat ihren Grund in dem westeuropäischen Charakter der französischen Vorstellungen von Europa, politisch wie kulturell. Man sollte sich von der gaullistischen Rhetorik nicht täuschen lassen, die Forderung nach einem Europa vom Atlantik bis zum Ural richtete sich in erster Linie gegen die Vorherrschaft, das „Kondominium“ der Supermächte, das als Bevormundung empfunden wurde. Die „Überwindung von Jalta“ wurde zu einem Zeitpunkt am lautesten gefordert, als das Risiko der Verwirklichung am geringsten war, nämlich in den sechziger Jahren. Nach dem 9. November 1989 fanden keine Feiern zum „Ende von Jalta“ statt. Allerdings wurde die wiedergewonnene Freiheit für die Völker des Ostens bejubelt, das Verhältnis zu diesem Wert ist in Frankreich nach wie vor anders als in Deutschland.

Die Freiheit allein verschafft den ost- und südosteuropäischen Staaten aber noch keinen Platz in den europa- und sicherheitspolitischen Plänen der französischen politischen Führungsschicht. Ihr Denken ist nach wie vor von einer gaullistischen Grundströmung bestimmt, getreu dem Motto von A. Malraux, daß jeder Franzose Gaullist war, ist oder sein wird. Und sie hat noch immer nicht die Traumata von 1938 und 1940 überwunden, das Münchner Abkommen, die Kapitulation vor Hitler, und die Niederlage gegen das faschistische Deutschland, die sich am 22. Juni zum fünfzigsten Male jährt. Zu den unverarbeiteten Traumata gehören noch die Spaltung der Nation in Anhänger der Republik und ihre Gegner, die zu eben jener Zeit unter anderem wegen der kurz zurückliegenden Volksfrontregierung besonders tief war. Das Offizierskorps stand großenteils der extremen Rechten von Mauras nahe, ein Grund für den mangelnden Kampfeswillen der Truppen 1940. Die starke Rechtsströmung in der Gesellschaft begünstigte die Kollaboration mit den Faschisten. Später wurde der klaffende Riß mit dem einigungsstiftenden Mythos der Resistance überdeckt.

In den dreißiger Jahren herrschte bei der Linken in Frankreich eine pazifistische Grundstimmung, die man im nachhinein für das Münchner Abkommen und die Niederlage 1940 verantwortlich machte. Auf Abrüstungsvorschläge aus dem eigenen Lande, besonders wenn sie französische Atomwaffen einschließen, reagiert man bis heute mit Warnungen vor dem Kapitulationsgeist, der zu München geführt habe. Auch die Schwäche der französischen Friedensbewegung ist großenteils dieser kollektiven Erinnerung geschuldet. Während der deutsche Schluß aus dem Zweiten Weltkrieg lautete, „Nie wieder Krieg“, war der französische, „Nie wieder schwach“. Um dieses Motto hat sich die politische Klasse besonders seit der de Gaulleschen Politik der atomaren Abschreckung und nationalen Autonomie in Verteidigungsangelegenheiten geschart. Seit Ende der siebziger Jahre, als auch Sozialisten und Kommunisten die Atomwaffen akzeptierten, gibt es in dieser Frage keine Abweichler mehr. Die paar Häretiker werden des Feldes verwiesen, wie Admiral Sanguinetti oder General Copel. Das Klima zur Diskussion sicherheitspolitischer Alternativen ist denkbar ungünstig, die Erweiterungen des Begriffs von Sicherheit in Richtung Ökonomie, Ökologie und Soziales, die in den letzten Jahrzehnten stattgefunden haben, wurden in Frankreich nicht wahrgenommen - Sicherheit ist nach wie vor fast ausschließlich militärisch definiert.

Die sicherheitspolitische Gemeinde, auf Paris zentriert, ließ und läßt sich durch nichts in ihren Grundüberzeugungen erschüttern. Die Abschreckung des „Schwachen gegen den Starken“, die aus der Not der unzureichenden Mittel eine Tugend machen soll, und die Vorstellung, alle einzelnen Teile der französischen Armeen ergäben ein geschlossenes, logisch aufgebautes Ganzes, sind nach wie vor die Grundpfeiler, gepaart mit der nationalen Autonomie beim Atomwaffeneinsatz. Zwar reichen die finanziellen Mittel für diese Ganze hinten und vorne nicht, aber dann wird eben gestreckt, Stückzahlen verringert etc., doch, um des heiligen Konsens willen, kein Waffenprogramm gestrichen.

Als im Frühjahr letzten Jahres der US-Autor Ullman die geheime Kooperation Frankreichs mit den USA beim Aufbau der ach so unabhängigen Atomwaffe aufdeckte, vor allem im Bereich der MIRV-Technik, und enthüllte, daß Frankreich zwei atomare Zielplanungen hat, eine nationale und eine mit der Nato koordinierte, herrschte Funkstille in Paris. Selbst als die linksalternative Wochenzeitung 'Politis‘ die Dokumente in Faksimile veröffentlichte, zog es die politische Klasse vor, sich in Schweigen zu hüllen.

Auch eine mögliche dritte „Nullösung“ im Bereich atomarer, landgestützter Atomwaffen bis 500 Kilometer Reichweite bedeutet noch lange nicht das Ende der französischen „Hades“ mit 480 Kilometern Reichweite. Denn erstens, so kann man sich von Militärs belehren lassen, zielen französische prästrategische Waffen nicht auf Dresden, Prag oder Warschau, sondern auf Truppenansammlungen, egal wo die sind. Und zweitens kann man die „Hades“ nicht weglassen, weil dann das schöne Gesamtkonzept hin ist. Defensive Umrüstung? Frankreichs Strategie und Bewaffnung sind rein defensiv, mit gerade ausreichenden Mitteln, basta. Präsident Mitterrand hat denn auch die Losung für die „Hades„-Frage ausgegeben: „on ne bouge pas“ (wir rühren uns nicht).

Etwas genauer betrachtet, bietet die französische politische Klasse hinter der Fassade von Selbstsicherheit, neuerlich dargelegt im vielgelesenen Buch Regis Debrays mit dem Titel Tous azimuts („Alle Himmelsrichtungen“, Anspielung auf die erste atomare Abschreckungsstrategie in den Sechzigern) ein eher mitleiderregendes Bild. Verschanzt hinter offenbar unverzichtbaren Grundüberzeugungen, wiederholt sie zwanghaft die rhetorische Formel von der Wiederherstellung der Größe der französischen Republik. Und setzt dabei auf die Mittel und Rezepte von gestern, militärische Stärke und nationale Autonomie. Ihre Projekte wie Atomenergie, Atomwaffen, Concorde sind wirtschaftlich unrentabel, bürden der Nation Kosten auf, die Produktivität und Konkurrenzfähigkeit in den Kernsektoren behindern.

Vor allem das Beispiel der wirtschaftlich so erfolgreichen BRD war immer wieder Anlaß zur Sorge und vergrößerte nur noch den kaschierten Minderwertigkeitskomplex dieser herrschenden Klasse, die zu zukunftsweisenden politischen Projekten unfähig ist. Wie um diese Lähmung offenkundig zu machen, steht nun die deutsche Einheit vor der Tür. Der Satz Mauriacs, er liebe Deutschland so sehr, daß er zwei davon wolle, ist damit Episode. Die bisherige Politik der Regierenden beruhte auf einer Aporie, mit der man sich arrangiert hatte. „Jalta überwinden“ bedeutete die Aufhebung der Nachkriegsordnung in Europa, die als Aufteilung in zwei Reiche empfunden wurde. Zentraler Bestandteil dieser Nachkriegsordnung war aber die Teilung Deutschlands. Diese Teilung Deutschlands wiederum wurde als unverzichtbarer Bestandteil der eigenen Sicherheit gesehen, deren letzte Garantie die Atomwaffe war.

Nun ist diese bequeme Ordnung hinüber. Was nun? Durch einen schönen Zufall jährt sich 1990 zum hundertsten Male der Geburtstag des Übervaters der politischen Klasse, Charles de Gaulle, dem man die nationale Ehrenrettung und die Rüstung zur Verdeckung des Minderwertigkeitskomplexes verdankt. Also suchen wir Rat bei ihm. So geschehen in der Aprilnummer von 'Defense Nationale‘, offiziöses Organ des Verteidigungsministeriums, unter dem Titel Sur l'Allemagne, relire de Gaulle („Zur Deutschlandfrage bei de Gaulle nachlesen“). Denn der hat schon alles gewußt und vorgegeben. Er hat den Sowjets schon gesagt, sie müßten den Totalitarismus auf- und die Völker Osteuropas freigeben. Die Bedingungen für die Zukunft eines eventuell vereinten Deutschlands seien die endgültige Anerkennung der Nachkriegsgrenzen, der Verzicht auf Atomwaffen und eine feste Einbindung des unsicheren Kantonisten in nicht genauer bestimmte Strukturen. Doch de Gaulles Europa war Westeuropa, eine um Frankreich herum gruppierte Konföderation der sechs ursprünglichen EG-Staaten, als Gegengewicht zur Sowjetunion. Das neue Konzept der Europäischen Gemeinschaft bedeutete zwar eine Erweiterung nach Westen und nach Norden, aber nach Osten ist seine äußerste Ausdehnung die Oder-Neisse Grenze geblieben. Für die politische Klasse blieb auch in den letzten Jahren Europa der Weg des Heils, und damit war immer Westeuropa gemeint. Oder wie der ehemalige Präsidentenberater Regis Debray, der neuerdings auch zur Fangemeinde de Gaulles gestoßen ist, es 1985 in seinem Buch „Les Empires contre l'Europe“ gesagt hat: „Die Unabhängigkeit Frankreichs wird durch und mit Europa gerettet, und Europa entsteht nicht ohne ein starkes Frankreich, der Kampf um beides ist von nun an der gleiche.“ EG-Kommissionspräsident Delors stößt in seiner Arbeit La France par l'Europe ins gleiche Horn. „Von diesem Standpunkt aus stellt der Aufbau eines geeinten Europa für Frankreich in seinem jetzigen Zustand, mit seinen Trümpfen und seinen Schwächen, eine außergewöhnliche historische und politische Chance dar. (...) Auf diese Weise wird Frankreich durch Europa an Größe gewinnen, in dem Maße wie letzteres, ein Zusammenschluß von Mittelmächten, sich als Macht ersten Ranges behaupten wird.“ Kürzlich äußerte er die Besorgnis, feste KSZE-Strukturen könnten in Konkurrenz zur EG treten.

Was aus den Staaten Ost- und Südosteuropas werden soll, dazu hat man keinerlei Ideen. Wenn sie nun irgendwo zwischen der Sowjetunion und EG-Europa eingekeilt sind, ist das erst mal kein Problem. Für kriegerische Grenzkonflikte könnte man ja eine Art UNO-Truppe oder Eingreiftruppe aufstellen. Eine Erweiterung der EG über die DDR hinaus ist jedoch unerwünscht. Der Generaldirektor des Schwerindustriekonzerns Saint Gobain befand kürzlich, mit dem Pragmatismus des Industriellen, es sei ja auch wünschenswert, vor den Toren der EG eine Zone mit niedrigen Löhnen zu haben, man investiere lieber in der Tschechoslowakei als in Thailand.

Auf der 14. Deutsch-französischen Konferenz vom 28. bis 30. Mai in Berlin, hochrangig besetzt aus den Reihen von Politik, Militär und Wissenschaft, wurde die französische Konzeptionslosigkeit besonders offenbar. In bezug auf neue Sicherheitsstrukturen hatte man nichts zu bieten außer der Beschwörung des alten Feindbildes Sowjetunion. Anwesende DDR -Vertreter, die auf die Einbeziehung der Sowjetunion in neue europäische Strukturen Wert legten, waren ziemlich entsetzt über diese Inhaltsleere und das Verharren in überkommenen Denkstrukturen. Der Leiter der Arbeitsgruppe zur Zukunft der europäischen Sicherheit, vom französischen Institut für internationale Beziehungen IFRI, bescheinigte am Schluß den DDR-Vertretern mit kalt lächelnder Arroganz, ihre Darstellung der wirtschaftlichen Probleme der DDR bei der Umstellung sei hellsichtig, ihre Ideen zur gesamteuropäischen Sicherheitsstruktur seien jedoch „retrograd“ (rückwärtsgewandt) gewesen.

Von kollektiven Sicherheitsstrukturen will eine politische Klasse, die unterbewußt die Kriege von vorgestern wiederholt und in deren Diskurs „Bedrohung“, „Verteidigung“, „Abschreckung“ und „Stärke“ die Zentralbegriffe sind, nun schon gar nichts hören - hat man nicht gesehen, was der Völkerbund der zwanziger Jahre erreicht hat? Abrüsten werden wir erst, wenn die anderen ihre Überrüstung abgebaut haben. Oder, um Mitterrand zu wiederholen, „on ne bouge pas“. Also setzt man auf die Kontinuität der Nato, die zwar den Nachteil hat, von den USA dominiert zu sein, die aber die Bundesrepublik und hoffentlich auch ein vereintes Deutschland fest einbindet. Denn das ist ein erprobtes Modell französischer Sicherheitspolitik: werden die Deutschen zu unsicheren Kantonisten, wie zum Beispiel während der „Nach„rüstungsdebatte, dann verläßt man sich auf die USA und die Sowjetunion, wie auch immer man sonst zu diesen Mächten steht. Und so setzt die politische Klasse Frankreichs ein weiteres Mal auf die Rezepte von gestern, in der Hoffnung, auch dieser Sturm möge vorüberziehen ohne die liebgewordenen Strukturen nachhaltig zu erschüttern. So bliebe es ihr erspart, sich von der Vergangenheit zu emanzipieren, um wieder handlungsfähig zu werden.

Der Autor ist Mitarbeiter der Berliner „Berghof-Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung„