: Der Fußball am Scheideweg
■ Deutschland ist Weltmeister, und der Fußballsport braucht eine Wende
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Nun ist es tatsächlich passiert. Deutschland ist Fußball -Weltmeister - und diesmal sogar verdient. Anders als 1954 und 1974, als die jeweiligen Endspielgegner - Ungarn und die Niederlande - in den Augen der Welt zumindest die moralischen Sieger waren, spielten die Deutschen in Italien unbestritten den besten Fußball. Ein schmuckloser Sieg gegen die CSFR, ein bißchen Glück gegen England, das gehört dazu und ist gleichzeitig charakteristisch für diese WM, die vor allem von Mittelmäßigkeit geprägt war.
Seit den aktiven Zeiten eines Franz Beckenbauer oder Johan Cruyff triumphierte bei den großen Turnieren fast immer das kompakte Kollektiv über die Fertigkeiten einzelner herausragender Persönlichkeiten. Argentinien 1978, Italien 1982, BRD 1990 - alles Mannschaften, die im Grunde keine Stars besaßen, sondern allenfalls wackere Vorarbeiter. In ihren Vereinen können die Gullits und die Baggios über eine ganze Saison hinweg noch glänzen, auf der Ebene der Ländermannschaften aber ist die Physis der gegnerischen Abwehrspieler, die Foultechnik, die Fähigkeit, jeden Millimeter Raum abzudecken, so perfekt, daß das Spiel im Keim erstickt wird. Nur zwei Genies, Platini bei der EM 1984 und Maradona bei der WM 1986, schafften es auf dem Zenit ihres Könnens, den brutalen Gesetzen des modernen Fußballs ein Schnippchen zu schlagen, ihre individuelle Kunstfertigkeit und ihre Teams gleichzeitig triumphieren zu lassen.
Absolute Ausnahmen, wie Italien 1990 zeigte, wo nur die Kameruner phasenweise berauschenden Fußball zelebrierten. Symptomatisch das weitgehende Scheitern der vorher hochgelobten Torjäger van Basten, Careca, Vialli, Barnes, Völler, Klinsmann, Ruben Sosa. Von den Mittelfeldkünstlern schaffte es allein der Belgier Scifo, einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen, aber es war kein Zufall, daß sich seine Mannschaft früh verabschiedete. Es regierten begnadete Handwerker wie Matthäus, Buchwald oder Gascoigne, die industrielle Revolution des Fußballs hat das l'art pour l'art der Altvorderen endgültig beiseitegefegt. Es triumphierte der phantasiearme, effektive Kraftfußball europäischer Prägung.
Die geringe Zahl der erzielten Tore bei dieser WM - 115, absoluter Minusrekord - die Taktik der Einigelung, die die meisten Spiele dominierte, die Häufigkeit der Elfmeterschießen, die klägliche Figur, die ein Fußballzauberer wie Maradona in einigen Partien abgab, zeigten mit grausamer Deutlichkeit, daß der Weltfußball an einem Scheideweg angelangt ist. Die Tendenz zu einem reinen Mittelfeldspiel, arm an Torszenen und technischen Raffinessen, unterbrochen von durchschnittlich vierzig bis fünfzig Freistößen, schreitet unerbittlich fort. Sollen statt dessen wieder Kreativität und Spielwitz Einzug halten, sind Regeländerungen unvermeidlich. Einen gangbaren Weg hat das Achtelfinale zwischen der BRD und den Niederlanden aufgezeigt. Als beide Seiten nur noch zehn Leute auf dem Platz hatten, entwickelte sich eines der muntersten Spiele dieser WM.
Matti Lieske
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