Produktion der Besinnung

■ Kolonialisierung, Verstocktheit - eine Betrachtung über zwei Sichtweisen eines sich einigenden Deutschland

DEBATTE

Anna Jonas demonstrierte letzter Woche in ihrer Erwiderung auf Wolfgang Kil's Gastkommentar vom 29.Juni noch einmal nachträglich, vermutlich zum Zwecke der Anschaulichkeit, das Verfahren, vor dem Kil weidlich Angst entwickelte. Eben jener Verzicht auf Gleichberechtigung, eben jene pauschal unterstellte „Gesprächsunfähigkeit“ bei den Ost -Intellektuellen, eben jene hegemoniale Herablassung gegenüber den als „SEDenker“ denunzierten Geistern, die eine Kolonialisierung des DDR-überbaus, der DDR-Geschichte befürchten und die Fortsetzung eines mehr rationalen Diskurses einklagen.

Allerdings vergaß er selbst einiges zu differenzieren und bot seinem Widerpart so willkommenen bis gerechtfertigten Anlaß zum pauschalen Gegenschlag.

Zunächst erweckte Kil tatsächlich den Eindruck, als werde die Überwältigung des DDR-Überbaus quasi generalstabsmäßig geplant. Dem ist sicher nicht so. Das muß jedoch nicht heißen, daß es diesen, durchaus auch als einheitlich zu beschreibenden Prozeß nicht gibt. Dem einigermaßen sehtüchtigen Beobachter wird der Vorgang kaum verborgen bleiben, der da in der radikalen Ausdünnung der institutionell geborgenen intellektuellen Linken (was immer man darunter verstehen mag, entscheidend ist doch aber wohl was die entsprechenden Entscheidungsträger darunter verstehen) besteht. Die administrativ angeschobene Entlassung aller Marxismus/Leninismus-Professoren kann sicher nicht als natürlicher Rückgang einer zum Aussterben verurteilten Gelehrtengattung bewertet werden.

Vornehmlich an diesen Verfahrensfragen aber entzündet sich die Angst solcher „Altdenker“ wie Wolfgang Kil. Anna Jonas hält es zwar für „das gute Recht all derer, die eine pluralistische Demokratie, also eine wirklich andere Republik als die der SED wollen, all jene zu entlassen, die genau das verhindern möchten und sich zudem noch bestens dafür eignen, weil sie nämlich genau das und kaum etwas anderes gelernt haben“, aber sie läßt offen, nach welchen Maßstäben die „Verstockten“ und die aufrechten Demokraten unterschieden werden können. Als billigste Variante bietet sich da die sogenannte Vergangenheit an. Und deshalb entbrennt der unausweichliche, in vielen Beziehungen aber scheinheilige Machtkampf genau an diesem „Recht auf selbstbestimmten Umgang mit der eigenen Vergangenheit“. Der Ton der Jonasschen Rede offenbart an diesem Punkt ein Denken, das mindestens genauso trivial und verheerend wirkt wie die leidige „Stamokap„-Ideologie. Es ist dies die Auffassung vom „Staatsvolk“, das nach Zusammenbrechen desselben seiner eh nur krustenhaften Identität verlustig gegangen ist, weshalb man über jene auch nicht mehr zu reden braucht. Die Realität eines weitgehend widerstandsunfähigen Gemeinwesens mag Anna Jonas erstmal Recht geben. In Wirklichkeit ist aber die These vom „Staatsvolk“ in hohem Maße albern und der Reflex einer simpelnden Mediengesellschaft. Vielmehr wäre aber die Frage zu stellen, was sonst noch passierte, unterhalb der feudalen Strukturen, unterhalb der Botmäßigkeitsrituale und unterhalb jener staatstragenden Ideologie, in deren Bereich jetzt auch die aufgeklärten „Andeutungsdissidenten“ (Jens Reich) wie Christa Wolf und Heiner Müller gezwungen werden sollen. Daß diese oft als leidvoll empfundene und mehr auf den Korridoren praktizierte Aufklärung scheiterte, ihren Adressaten verlor, bedeutet nicht, daß sie das grundsätzlich falsche Verfahren darstellte. Der Umstand, daß man nicht den Aufstand probte, mag von Illusionen zeugen, die Tatsache, daß man nicht mit den offenen Anklägern ging, kann private Gründe haben, aber sicher ist auch, daß man auf Lernprozesse setzte, bei den Entscheidungsträgern, bei den Opportunisten.

Die Bezeichnungen, die Anna Jonas findet, sind in der Häufung fragloser Abqualifizierungen keinesfalls Ausdruck überlegener geistiger Gesittung oder gar einer Gesprächskultur, die den Auseinandersetzungen der vergangenen DDR angeblich so weit voraus ist. Vielmehr verbirgt sich dahinter jene, geradezu bewußt erhaltene, Uneinsichtigkeit in das Selbstverständnis und die Über -Lebensstrategien der hinreichend vernunftbegabten Wesen unter der Ägide der Politbürokratie im nun so unheroisch versandeten Sozialismus. Anna Jonas diagnostiziert bei Wolfgang Kil „Unterstellungen“, aber für keine ihrer Behauptungen bringt sie auch nur einen Beweis. Die Deduktionen bundesdeutscher Logik sind keinesfalls historisch wetterfest. Kann man denn aus den Fehlern anderer wirklich nur lernen, daß man es selbst am besten macht? Kein Zweifel, daß es geboten ist, von den etwas fortschrittsfeindlichen, oder um im Jonasschen Sprachgebrauch zu bleiben, „beschissenen“ Strukturen gesellschaftlichen Lebens der verendenden DDR Abschied zu nehmen. Gemessen an diesen gesellschaftlichen Strukturen sind es sicherlich „verlorene Jahre“, aber gibt es diesen Verlust auch in der kulturellen Prozessen? In Bezug auf die Frauenfrage reden Soziologen von „Zwangsemanzipation“ in der DDR. Welch seltsames Wort, aber wäre darüber nicht zu reden?

Kein Zweifel, daß sich jeder DDR-Bürger fragen sollte, wieviel er gewußt, wiewenig er getan und welchen Illusionen er sich hingegeben hat. Illusionen aber hegte noch der bissigste Oppositionelle in der DDR, wie man jetzt auf das deutlichste vorgeführt bekommt. Die meiner Meinung nach arrogante „Schuldfrage“, die an diesem komplizierten Feld von Täuschung und Selbsttäuschung im Sozialismus souverän vorbeisteuert, und den erschütterten DDR-Intellektuellen erstmal die Besinnung in der Produktion empfiehlt, anstatt ihren unvermeidlichen Lern- und Neuorientierungsprozeß sachlich und kritisch zu begleiten, verbaut sich selbst die Chance, geistiges Potential zu formieren, mit denen den sozusagen übriggebliebenen sozialen wie globalen Problemen begegnet werden könnte. Ich bin nicht der Auffassung, daß eine DDR-Identität trotzig als Schutzschild gegen die anbrechende Neuordnung Deutschlands erhoben werden darf. Auch bewerte ich die Lernprozesse als völlig unzureichend, und den „Geist des 4.November“ betrachte ich schlichtweg als Sinnestäuschung. Und sicher beruht der Ärger solch denkender West-Menschen wie Anna Jonas zu großen Teilen auf dieser vor sich hindümpelnden Diskussion um „DDR-Identität“ und um die verpaßten Chancen bei den Ost-Intellektuellen. Und sicher resultiert hieraus auch das Gefühl, die Ossis müßten erstmal zum geistigen Niveau des westlichen Gedankenreichs aufschließen. Aber das ist eine theoretische und wahrscheinlich nicht so schmerzhafte Frage. Aber dort, wo die „Schuldfrage“ dazu benutzt wird, um Leute aus ihren Positionen zu drängen, noch bevor der Gang der Dinge ihre Qualifikation und ihr innovatives Potential getestet hat, noch bevor ein rationaler Diskurs sie entweder neu integriert oder als „unverbesserlich“ ausgeschieden hat, ist kein Klärungsprozeß und keine faire Auseinandersetzung an der Tagesordnung, sondern eine billige, ideologisch abgestützte Ausgrenzung. Eine Abrechnung nach Mustern, die nicht nach den Wirkungen des Marktes oder des Rechtsstaates aussieht, sondern nach stalinistischer Tradition. Anna Jonas sollte dem auch unbewußt keinen Vorschub leisten. Ich glaube, es ist diese Angst, daß die Vergangenheit in fetten Rastern gegen die widerspenstigen Intellektuellen verwandt wird, die sie davon abhält, diese Vergangenheit in der Art kritisch zu beleuchten, wie Anna Jonas das sich vielleicht wünscht. Ihre Erwiderung hat diese Furcht nur bestätigt.

Stefan Schwarz