„Für Flucht gibt es viele Gründe“

■ Der New Yorker Professor Aristide Zolberg über Flüchtlingspolitik, Nationalismus und neue Mauern

INTERVIEW

In Italien geht das Militär gegen illegale Einwanderer vor, in Frankreich mobilisiert Le Pen gegen ImmigrantInnen, Schweden weist russische Juden ab und die Deutschen ziehen neue Mauern an der Oder-Neiße-Grenze hoch. Europa macht die Außengrenzen dicht - gleichzeitig haben Rassismus und Nationalismus Hochkonjunktur.

Anläßlich einer Tagung des Berliner Instituts für vergleichende Sozialforschung zum Thema „Migration und ethnische Beziehungen“ sprach die taz mit Professor Aristide Zolberg. Der gebürtige Belgier, der selbst vor den Nazis in die USA emigrierte, ist Professor an der New Yorker „New School for Social Research“ und befaßt sich seit Jahren mit Migrations- und Flüchtlingspolitik.

taz: Die Diskrepanz zwischen den Idealen internationaler Flüchtlingskonventionen und der tatsächlichen Politik der reichen Länder wird immer größer. Müßte man nicht den Flüchtlingen von heute wünschen, sie wären Hugenotten? Die sind seinerzeit sehr viel besser behandlet worden...

Zolberg: Die Idee, daß ein Land gegenüber schutzbedürftigen Fremden besondere Verpflichtungen hat, ist ja ziemlich alt. Sie hat sich während der Religionskriege entwickelt. Katholische Länder nahmen katholische Flüchtlinge auf, protestantische nahmen Protestanten auf. Insofern waren es nicht Fremde, sondern in gewissem Sinne Brüder, die anderswo für eine Gesinnung oder Glauben bestraft wurden, den man selbst hatte.

Der allgemeine, übergreifende Begriff des Flüchtlings entstand im 20. Jahrhundert nach dem Zweiten Weltkrieg - und zwar aus einem Gefühl der Schuld heraus. Der Schuld, denen nicht geholfen zu haben, die anders waren: den Juden. Sie waren Fremde.

In dieser Beziehung haben alle Staaten mit den Nazis kollaboriert. Für die Nazis war das ein klares Signal: Keiner will sie haben, also können wir sie umbringen. Aus diesem Schuldgefühl heraus entstand eine neue Definition: Jeder, der verfolgt wird, soll Schutz erhalten, egal woher er kommt oder was er ist.

Aber diese Definition verkommt zunehmend zur Hülse...

Weil zwei Dinge passiert sind. Zum einen: Die meisten Menschen, die in diesen Zeiten aus ihrem Land fliehen müssen, sind nicht Verfolgte im herkömmlichen Sinn. Der überwiegende Teil der heute 15 Millionen Flüchtlinge werden nicht verfolgt, weil sie einer bestimmten ethnischen oder religiösen Gruppe angehören wie die Juden.

Die meisten sind Flüchtlinge, weil sie Opfer eines Bürgerkrieges oder eines bewaffneten Konflikts sind. Zum anderen: Die Flüchtlinge kommen nunmal aus den Ländern der Dritten Welt. Oder um es grob zu sagen: Ihre Haut ist nicht besonders weiß.

Sie kommen aus ehemaligen Kolonien, sie sehen aus wie die Menschen, die wir früher als Sklaven oder als Zwangsarbeiter genommen haben. Als Arbeitskraft sind sie angesehen, aber nicht als Mitglieder der Gesellschaft.

Von mehreren Menschenrechtsorganisationen wird seit langem gefordert, den Flüchtlingsbegriff zu erweitern. Ist die Definition des politischen Flüchtlings überholt?

Es gibt zumindest einen ausschlaggebenden Grund daran festzuhalten - was nicht bedeutet, daß er nicht erweiter werden müßte: Menschen, die in ihrem Land politisch verfolgt werden, haben nun einmal ein besonderes Anrecht auf Schutz, weil ihnen in ihrem Land nicht geholfen werden kann. Die einzige Chance, die sie haben, ist die Flucht.

Angenommen, in einem Land herrscht Hungersnot, dann könnte diesen Menschen - zumindest in der Theorie - geholfen werden, indem man sie mit Lebensmitteln versorgt.

Deswegen haben politische Flüchtlinge einen besonderen Anspruch auf Schutz. In der Realität läßt sich das natürlich längst nicht mehr so deutlich unterscheiden. Die Gründe für Hunger und Armut können sehr wohl etwas mit dem herrschenden politischen Regime zu tun haben.

Sie haben in diesem Zusammenhang von einer „Krise der internationalen Flüchtlingshilfe“ gesprochen. Warum?

Weil die gesamte internationale Flüchtlingshilfe auf der Grundannahme aufgebaut wurde, daß Staaten ihrer Bevölkerung ein Minimum an Versorgung und Schutz garantieren können. Jetzt haben wir Staaten, die dazu offensichtlich nicht in der Lage sind. Deshalb plädiere ich dafür, die Definition, wer schutz- und hilfsbedürftig ist, zu erweitern.

Ist eine Abkehr von der gegenwärtigen Abschottungspolitik des Nordens in absehbarer Zeit vorstellbar?

Eine kleine Chance besteht. In Nordamerika gibt es wachsende Unterstützung für einer Art wirtschaftlicher Gemeinschaft mit Mexiko. Das wird sich auch auf die Frage der Arbeitsmigranten auswirken. Wobei man sehen muß, daß das neue Einwanderungsgesetz in den USA, das ja illegale Einwanderung verhindern sollte, offensichtlich in der Praxis wenig Wirkung zeigt.

Was Europa betrifft, so gehe ich davon aus, daß es in den nächsten zwanzig, dreißig Jahren wirtschaftlich ungemein erfolgreich sein wird. Es wird einen Boom und damit auch Anreize für eine andere Immigrationspolitik geben. Das ändert natürlich nichts daran, daß sich momentan ausgemacht widerliche Entwicklungen abspielen. So betrachtet ist Le Pen nicht nur Franzose.

Wobei die meisten Leute das Beispiel England vergessen: Da gab es zuerst eine Nationale Front, die ausdrücklich immigrantenfeindlich war. Sie ist nur deshalb verschwunden, weil das ganze Land immigrantenfeindlich wurde.

Interview: Andrea Böhm