: Ende der „Jahrhundertchance“?
■ Der rot-grüne Senat in West-Berlin steht vor dem endgültigen Bruch / AL will Kompetenzbeschneidung ihrer Senatorinnen nicht hinnehmen
Von Kordula Doerfler
Berlin (taz) - Ein Sommerloch gibt es dieses Jahr in Berlin nicht. Weder für Journalisten noch für die, über die sie schreiben sollen. Der Wahlkampf für die ersten gesamtberliner Wahlen hat bereits begonnen, und kurz vor der sonst üblichen Sommerpause steuert die rot-grüne Koalition aus SPD und Alternativer Liste auf den endgültigen Bruch zu. Die Fraktionen und Parteivorstände der beiden Koalitionsparteien stehen seit gut zehn Tagen in einem Verhandlungsmarathon, der seinesgleichen sucht: Die SPD hat ein 56-Punkte-Paket geschnürt, über das mit der AL Einigkeit erzielt und das bis zum Ende der Legislaturperiode umgesetzt werden soll.
Das Paket beinhaltet neben unstrittigen Punkten auch die großen Konflikte: Die Genehmigung des Forschungsreaktors am Hahn-Meitner-Institut, die Ansiedlung von Daimler-Benz am zentral gelegenen Potsdamer Platz, die Olympia-Bewerbung von Berlin, die Einführung des kommunalen Ausländerwahlrechts und der Staatsvertrag mit der DDR. Die SPD erwartet, daß die AL in allen Konflikten mit ihr an einem Strang zieht und auch im Parlament die Zustimmung zu Senatsbeschlüssen erteilt. Hintergrund dieser Forderung ist die Drohung der Alternativen, im Parlament die Zustimmung beispielsweise für Daimler-Benz zu verweigern, da die drei AL-Senatorinnen bei der Entscheidung über den Kaufvertrag mit dem Stuttgarter Multi letzte Woche im Senat überstimmt wurden.
Dieses Entscheidungsmuster ist keineswegs eine Ausnahme, sondern wird bei aktuellen Konflikten mehr und mehr zum Regelfall. In den Koalitionsvereinbarungen vom März 1989 wurde Konsensprinzip zwischen den Koalitionspartnern vereinbart - in der Realität ist man in vielen Fällen weit davon entfernt. Auf einer Mitgliedervollversammlung der AL vor drei Wochen sprach sich noch eine große Mehrheit der Anwesenden für die Fortsetzung der Koalition aus, denn es sei ein riesiger Fehler, die Stadt in dieser historischen Situation den Konservativen oder einer großen Koalition zu überlassen. Dieses Urteil ist mittlerweile auf beiden Seiten ins Wanken geraten: Bei den Alternativen ist die Enttäuschung über die mangelnde Kompromißbereitschaft der Sozialdemokraten groß, die sich mit Blick auf den Wahlkampf immer weiter von den Koalitionsvereinbarungen entfernen. Teile der SPD halten es tatsächlich für sinnvoll, jetzt den Bruch zu riskieren, um das angeschlagene Bild der Partei vor allem am rechten Wählerrand aufzumöbeln - um dann im Herbst erneut mit einem rot-grünen Bündnis anzutreten. Andere haben sich schon mehr oder minder deutlich für eine große Koalition ausgesprochen.
Auf einer Mitgliederversammlung der AL am Wochenende, als eigentlich nur der Beitritt der AL zu den Bundesgrünen auf der Tagesordnung stand, wurde die Koalitionsfrage noch einmal zugespitzt. Die Abgeordnetenhaus-Fraktion kündigte an, sie werde eine weitere Überstimmung der AL-Senatorinnen im Senat ebensowenig hinnehmen wie eine faktische Entmachtung der Senatorinnen. Zumindest auf Gerüchte-Ebene droht zwei der drei Senatorinnen eine gravierende Kompetenzbeschneidung, sollten sie sich nicht so verhalten, wie die SPD dies wünscht. Bereits in der heutigen Senatssitzung soll dem Staatssekretär der AL-Senatorin für Schule und Sport, Sybille Volkholz, die Federführung für die Olympia-Bewerbung von Berlin entzogen werden.
Walter Momper wird vermutlich dem massiven Druck der Sport -Funktionäre um den greisen NOK-Präsidenten Willi Daume nachgeben. Der motorradfahrende alternative Staatssekretär „Cola“ Kuhn ist für Daume von jeher ein rotes Tuch, obwohl Kuhn durchaus auch ein Olympia-Befürworter ist. Kuhn will allerdings die Rolle der olympischen Spiele 1936 kritisch untersuchen und die „Lebenslüge des Sports“, der im Dritten Reich politisch mißbraucht worden sei, aufarbeiten lassen. Daume selbst war 1936 Olympionike und schwärmt gern von den gut organisierten Spielen in Berlin. Angeblich hat Momper ihm versprochen, den mißliebigen Kuhn von der Olympia -Vorbereitung fernzuhalten und die Senatskanzlei damit zu beauftragen.
Ähnliches droht beim Hahn-Meitner-Institut, wo der Umweltsenatorin die Atomaufsicht entzogen werden soll, wenn sie nicht Ende des Monats die Betriebsgenehmigung für den Forschungsreaktors erteilt. In den Koalitionsverhandlungen hatte die AL erbittert dafür gestritten, die Atomaufsicht weg von der SPD-geführten Senatsverwaltung für Wissenschaft und Forschung hin zur Umweltsenatorin zu verlagern.
Die Verhandlungen zwischen SPD und AL über das 56-Punkte -Paket laufen diese Woche auf Hochtouren. Nicht einmal AL -Oberrealo Bernd Köppl glaubt, daß die SPD den Forderungen des Koalitionspartners nachgeben wird. Die Sozialdemokraten wollen eine endgültige Entscheidung am Donnerstag fällen und sich notfalls auf eine Minderheitsregierung einlassen.
Der alte und neue Spitzenkandidat der CDU-Opposition, Eberhard Diepgen, nutzt derweil die Schwäche der Koalition und verkündet seit Tagen selbstbewußt die Rückkehr der CDU an die Regierung.
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