Ganz Deutschland zwischen Rausch und Randale

■ Jagd auf Ausländer in Ost-Berlin, 100.000 feiern in West-Berlin / Schwere Auseinandersetzungen in Hamburg und Bielefeld

Ost-Berlin. Kaum eine Handbreit zwischen den beiden Köpfen, rechts ein Volkspolizist mit Kampfanzug, Helm und Schlagstock in der Hand, links ein Blonder mit ausrasiertem Nacken, Springerstiefeln und Hosenträgern in Schwarz-Rot -Gold. „Ihr Schweine habt mich am 7. Oktober schon mal zusammengschlagen. Heute hat Deutschland gesiegt“, brüllt er. „Von euch Scheiß Bullen laß‘ ich mir das Feiern nicht verbieten.“ Der Volkspolizist schiebt sein Plastikschild zwischen sich und seinen Kontrahenten. „Ich polier‘ dir gleich noch mal die Fresse.“ Es bleibt bei der Drohung, der Einsatzleiter pfeift seine Leute zurück. Bierdosen und Flaschen fliegen hinterher. Wenige Minuten später Anfeuerungsrufe auf der anderen Seite des S-Bahneingangs am Alexanderplatz. Zwei Libanesen werden johlend durch die Gänge gejagt. Ein dritter kann sich mit zertrümmertem Nasenbein und blutverschmiertem Gesicht erst befreien, als die Polizei einschreitet. 5.000 Ostberliner hatten Stunden zuvor im Lustgarten zwei Platzverweise gegen die Argentinier und das deutsche Elfmetertor bejubelt. Mercedes-Benz machte es möglich - und hatte vor dem Alten Museum eine überdimensionale Videowand aufgestellt. Eine Fotografin, die für eine spanische Zeitung arbeitet, berichtete der taz telefonisch, mehrere betrunkene Männer hätten sie nach dem Spiel zu Boden gerissen und zusammengeschlagen und ihre Kameraausrüstung zertrümmert. Die Polizei habe sich geweigert einzuschreiten. Rund 500 waren nach Spielende auf den Alexanderplatz gezogen - die meisten in schwarz-rot -goldene oder Reichskriegsflaggen gehüllt. „Deutschland, Deutschland“, ertönte es unter den S-Bahnbrücken. Eine Gruppe von etwa 200 Rechtsradikalen zog mit Eisenstangen und Knüppeln bewaffnet Richtung Prenzlauer Berg zu einem besetzten Haus, wurde von der Polizei jedoch zurückgedrängt. Vietnamesen, die sich nach Spielende auf der Straße aufhielten, wurden nach Augenzeugenberichten von Neonazis durch die Straßen gejagt und mußten sich in Hauseingänge und Restaurants flüchten.

In West-Berlin strömten an die 100.000 Menschen auf den Ku'damm, um den deutschen Sieg zu feiern. Vier Jugendliche, die auf einen Mercedes-Lieferwagen geklettert waren, erlitten lebensgefährliche Verletzungen, als dieser von der Fahrbahn abkam, einen Betonpfeiler streifte und die blinden Passagiere auf die Straße schleuderte. Der Fahrer raste weiter. Das Fahrzeug wurde kurz danach von einem Spandauer als gestohlen gemeldet. Im Bezirk Kreuzberg plünderten vermummte Gestalten ein Drogeriegeschäft. 22 Personen wurden festgenommen.

Weniger fröhlich ging es am Sonntag abend in Hamburg auf der Reeperbahn zu. Obwohl die „Creme der Hamburger Hooligans“, so ein Mitarbeiter des hiesigen Fan-Projektes, in Italien war, kam es zu der größten Straßenschlacht, die sich Polizei und jugendliche Fußball-Fanatiker bisher in Hamburg geliefert haben. Während die sonstigen Titelfeiern, bei denen Zehntausende von Hamburgern auf den Straßen und Plätzen zusammenströmten, von einer heiteren, nicht -aggressiven Stimmung geprägt waren, flogen auf der Amüsiermeile Flaschen, Steine und zerbrochene Gehwegplatten.

Vorsorglich hatte am Sonntag die Polizei sämtliche Straßen von der Reeperbahn zu den bunten besetzten Häusern am Hafenrand gesperrt. An diesen Sperren kam es dann zur Schlacht. Auch wenn die Polizei von „300 bis 400 Gewalttätern“ spricht, war das Besondere an dieser Auseinandersetzung, daß auch viele ganz „normale“ Jugendliche sich hier austobten, die keineswegs den Skins oder Hooligans zugerechnet werden können. Er habe unter den insgesamt 4.000 bis 5.000, die sich an der Reeperbahn versammelten, kaum jemanden gesehen, der ihm von seiner Arbeit im Stadion bekannt gewesen sei, berichtet Friedhelm Heitmann vom Fan-Projekt.

Zwar dürfte auch das rüde Vorgehen der Polizei, die bei ihren Festnahmen (insgesamt 88) zum Teil recht brutal vorging, indem sie die Festgenommenen an den Haaren über den mit Scherben übersäten Asphalt zog, dazu beigetragen, daß die Bereitschaft zum Steinwurf stieg. Eine ausreichende Erklärung für die Plünderungen in der Umgebung, bei denen 24 Geschäfte und Läden zu Bruch gingen, ist dies allerdings nicht. Ein Szene-Lokal in einer Nebenstraße wurde sogar völlig platt gemacht. 54 Polizisten wurden - zum Teil schwer - verletzt. 88 Personen wurden festgenommen.

Erstaunlicherweise nüchtern war der Mann in Gladbeck, der seinem Freund einen Schulterdurchschuß verpaßte. Als das Spiel zu Ende war, hatte der Schütze das Fenster geöffnet, die obligatorische Fahne geschwenkt und mit seiner Pistole einmal freudig in die Luft geballert. Der zweite Schuß löste sich dann versehentlich, so der Mann auf der Polizei, und traf seinen Freund in die Schulter. Der liegt nun im Krankenhaus.

In Dortmund, Bochum und Essen waren Zehntausende von Fans und noch mehr Flaschen auf den Straßen. Nach dem Fest kamen die städtischen Kehrmaschinen zum Einsatz. In der Bochumer Innenstadt gingen bis früh um 3 diverse Schaufensterscheiben zu Bruch, zum Teil wurde die Ware gleich mitgenommen. In Dortmund konzentrierten sich die sogenannten Fans auf den Borsigplatz, wo sie u.a. einen PKW in Brand setzten und die übrige Innenstadt.

In Köln waren die Innenstadtringe durch Autos blockiert. Ein 18jähriger Türke fuhr drei Leute an, als er versuchte, einer Gruppe zu entkommen, die seinen Wagen auszuwippen und umzukippen versuchte. Nach dem Unfall umringte die Gruppe den Wagen erneut und drohte den Fahrer zu lynchen. Sie wurde von der Polizei mit Schlagstöcken auseinandergetrieben. Schwerpunkt der Keilerei in Köln war die Gegend um den Rudolfplatz. Wieviele Verletzte es insgesamt gibt, ist noch nicht klar. Einem Mann fuhr ein Trecker, auf dessen Anhänger Fans von außerhalb nach Köln gefahren waren, über beide Beine. Ein anderer starb, als er sich aus der Straßenbahn herauslehnte und von einem Betonpfeiler erfaßt wurde. Bis es wieder hell wurde, hatten fußballbegeisterte - und normalerweise auch autoliebende - Männerhorden noch etliche Autos in Klump gehauen und eines angesteckt.

In Bielefeld schlug mit dem Abpfiff des Finales mal wieder die Stunde der Skins und Neonazis. Unter insgesamt etwa 4.000 Fans versammelten sich ca. 200 Leute aus der rechten Szene auf dem Bielefelder Klosterplatz, von wo aus sich wiederum ein Teil dieser Gruppe eine abendfüllende Schlacht mit der Polizei lieferte. Dazu benutzten die Herrschaften, die sich nicht mal die Mühe gemacht hatten, sich als Fußballfans zu tarnen u.a. Leuchtmunition. Sie schmissen Scheiben ein, plünderten und steckten schließlich einen Bauwagen in Brand, in dem Propangasflaschen lagerten. 18 Personen wurden festgenommen.

In Stuttgart feierten 35.000. Ein 28jähriger Mann erlitt schwere Verletzungen, als er aus Freude über den Fußballsieg einen Karton mit Magnesium anzündete.

In München feierten 100.000 in Schwabing und 6.000 auf dem Marienplatz.

In Frankfurt tanzten Tausende auf den Straßen, Unbekannte fielen sich um den Hals oder begossen Autos mit Bier, und einige Übergeschnappte sprangen in den Brunnen vor der Alten Oper.

Andrea Böhm/Kai Fabig/Bettina Markmeyer/thos