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Das Bild als Zeuge

 ■ Zur Ausstellung osteuropäischer Photographie in Lausanne

von Hubertus v.Amelunxen

Die größte photographische Ausstellung aller Zeiten - 503 Bilder aus 68 Ländern - so bezeichnete Edward Steichen 1955 seine Präsentation The Family of Man. Eine amerikanische Bilderschau mitten im Kalten Krieg, selbstredend fand sie unter Ausschluß osteuropäischer Teilnahme statt: The Family of Man war eine kapitalistische Idylle mit totalitärem Bildanspruch, die Photographien eine Weichzeichnung der Geschichte. Flächendeckende Präsentationen photographischer Bilderschauen sind heute zu alltäglichen Auswüchsen der nimmersatten Bilderkonsumtion geworden. Ob World Press Photography, Biennale oder Triennale, Houston Photography oder die alljährlichen Rencontres in Arles - die Zeit der Photographie läuft an.

Das „Musee de l'Elysee - un musee pour la photographie“ in Lausanne zeigt bis zum 29. Juli über 2.000 Photographien aus Ungarn, Polen, der CSFR, der DDR, Rumänien, Bulgarien, der Sowjetunion, der Ukraine, aus Litauen und Lettland. Bilder aus einem halben Jahrhundert von über hundert Photographen. Siebzig von ihnen waren für eine Woche auf Einladung des Museums in Lausanne, um an Gesprächen und Filmvorführungen teilzunehmen, vor allem aber, um die Autorinnen und Autoren jener Bilder kennenzulernen, die, vor dem staatlichen Auge möglichst verborgen, nur in Hinterhöfen oder Privatgalerien zirkulierten. Unglaublich die Einsicht, daß die Mehrzahl dieser Bilder nun erstmalig einer Öffentlichkeit vor Augen liegen, abgesehen von wenigen Ausnahmen wie Josef Koudelkas Photographien von Sinti und Roma (1963 bis 1968) und des Prager Frühlings oder Krzysztof Pruszkowkis Photosynthesen.

Die Ausstellung auf 2.500 Quadratmetern im Palais de Beaulieu mutet an wie ein Labyrinth, zahlreiche Gänge lassen den Besucher unentschlossen in Erwartung einer wegweisenden formalen oder inhaltlichen Ordnung verharren. Der suchende Blick bewegt sich in der Spannung einer vordergründig disparaten Architektur. Die Photographien sind weder nach Nationen noch thematisch oder gar stilistisch unterteilt. Der Raum bietet sich als eine Monade dar, deren vermeintliche Geschlossenheit jedoch eine explosive Spannung verbirgt. Enttäuscht werden jene Besucher sein, die eines Wegweisers oder Führers bedürfen, um die Photographien einzig nach den überkommenen Kriterien der nationalen Identität, des dokumentarischen Wertes oder gar der ästhetischen Differenz zu bewerten, jene Betrachter also, die ihren Faden gesponnen und schon gelegt haben, noch bevor sie die Ausstellung betraten.

Vor dem Palais de Beaulieu blicken den Besucher Kinderaugen an, gigantische Porträts, die Gottfried Helnwein 1988 anläßlich der 50. Wiederkehr der „Reichskristallnacht“ für Köln entwarf. In Köln wurde an den Photos nachts der Mord erneut begangen: Man zerschnitt mit Messern die Kehlen der Kinder, in Lausanne wurden die Bilder notdürftig restauriert. Helnweins Serie, Selektion, steht bildhaft für die Intention dieser Ausstellung: kein Triumph, keine Euphorie angesichts der Überwindung des (un)realen Sozialismus, sondern eine Mahnung, den historischen Augenblick zu nutzen und sich seiner Gefahren zu besinnen. Beim Betreten der Ausstellung fällt der erste Blick auf die bekannten Bilder Koudelkas von der Hoffnung und der Niederschlagung des Prager Frühlings; diese im photographischen Moment verdichtete historische Zeit erinnert an den Augenblick des vom Stalinismus sofort erstickten Aufbruchs. Im rechten Augenwinkel des Besuchers schweben Marx und Engels in Stein vereint, vom Kran getragen, durch die Luft. Sybille Bergmanns Serie über die Entstehung des Marx-Engels-Denkmals in Berlin (1975 bis 1986), von den Tonmodellen bis hin zur monumentalen Verewigung verfolgt, offenbart die Problematik einer ehemals propagandistisch verwandten Photographie, deren einst tendenzielle Affirmation sich in der Sequenz und einem anderen Kontext als eine ironische Brechung des Ereignisses darstellt. Der Betrachterstandpunkt bestimmt die Geschichte, beide, Betrachter und Geschichte, sind in ihrer Festigkeit von ephemerer Dauer und zu jeder Zeit einer Umwertung fähig. Ähnliches ist bei den Zeche-Bildern (1952 bis 1979) des ehemals offiziellen DDR-Photographen Gerhard Kiesling zu bemerken, wenngleich die hier gezeigten Bilder - etwa der nackte Grubenarbeiter von 1952 - niemals, so sagte mir Evelyn Richter, in der DDR zu sehen gewesen waren. Im linken Augenwinkel schließlich die eindrucksvolle Serie des polnischen Photographen Waldemar Jama, Die Zeit und Auschwitz (1981 bis 1989), im Negativ bearbeitete Bilder der Fassaden und der als Mahnmal noch verbliebenen Spolien des Völkermordes. Diese Bilder wie auch die Installation zu Auschwitz (Reconstruction sur scene) des Polen Wieslaw Vistan Broska sollten all den Menschen vor Augen geführt werden, die im Westen wie im Osten den wieder aufkommenden Antisemitismus schüren oder von ihm profitieren.

Das Mosaik dieser Ausstellung bietet Bilder des Durchgangs durch die Geschichte vom Faschismus zum Stalinismus hin zu den Umbrüchen - der Begriff Revolution erscheint mittlerweile anachronistisch - des letzten Jahrzehnts. Die Reportage des Polen Jerzy Benedikt Dorys über das Leben der vom Faschismus gemordeten jüdischen Gemeinde Kazimierz (1931 bis 1932), ein einmaliges Dokument jüdischer Geschichte, kontrastiert mit den Photographien der letzten Zeugen des Warschauer Gettos von Tomasz Tomaszewski, oder die Porträts der russischen Photographin Aljona Frankl der verschwindenden jüdischen Gemeinde in Budapest (1986 bis 1988), jene des Ungarn Laszlo Lugossi-Lugo der nun im Zeichen der Produktionskapitalisierung aussterbenden Berufe

-der Schirmmacher erinnert an Eugene Atgets Bilder vom Paris der Jahrhundertwende -, auch die Bilder vom Leben in Transsylvanien des ungarischen Photographen Peter Enrödi, der Bauern in der CSFR von Jindrich Streit oder der Sinti und Roma in Prag von Pavel Nadvormik - sie alle bieten den Eindruck einer dem westlichen Betrachter fernen Gegenwart, der nun eine hier wie dort kaum vorstellbare Zukunft bevorsteht.

Tomasz Kizny und die polnische Agentur 'Dementi‘ zeigen eine bedrückende Serie vom Gulag Workuta, der Kohleminen im nördlichen Ural, Photographien, welche der polnische Internierte Bernard Grzywacz nach Stalins Tod und der Schließung des Lagers in den Jahren 1956 und 1957 aufgenommen hatte. Die Bilder können nur noch eine Ahnung dessen vermitteln, was sich an aussichtslosem Aufbegehren, an Leiden, Agonie und Tod in den Jahren zuvor ereignet hatte. Grzywacz, 1911 geboren, ist wohl mit seiner Frau, die er dort traf, einer der letzten Augenzeugen des Lagers; in Lausanne erzählte er von den Lagerarbeitern, die Buchstaben auf ihrer Kleidung trugen, und von dem Alphabet, das nach und nach zum Schweigen gebracht wurde.

Trunken und unschlüssig geht man durch die Gänge dieser Ausstellung, Bilder ungewisser Schicksalswege, deren jeder einzelne wie ein plötzlich sich öffnendes Fenster zu sein scheint - die Aufnahmen des ukrainischen Photographen Viktor Marustschenko der Hinterbliebenen von Tschernobyl, Trauer, Wut und Ohnmacht liest man in den Gesichtern der Familie, die Photographie des bei den ersten Löscharbeiten in Tschernobyl verstrahlten Sohnes in den Händen der Mutter, Wirklichkeit als Tragödie nennen die drei russischen Photographen der 'Moscow News‘, Alexej Fjodorow, Pawel Kassin und Sergej Podlesnow, ihre Bilder der letzten sechs Jahre aus der Sowjetunion, Photographien der ökologischen Zeitbombe, Bilder aus Tschernobyl, aus Sibirien, vom Erdbeben und Ausverkauf der Särge in Armenien und von den Kämpfen in Aserbaidschan, oder Gao Keshiseans Photographien eines bulgarischen Strafbataillons, das die sogenannten Randgruppen, Zigeuner und Türken, rekrutiert.

Die Mehrzahl der ausgestellten Photographien sind Zeugnisse, ob politischer Unterdrückung, ethnischer Marginalisierung, ökologischer Katastrophen oder des Aufbruchs zur politischen Emanzipation: Die Photographien bezeugen eine Bewegung, die an Kontrasten reicher und auch eindrucksvoller ist als viele der vornehmlich an westlichem Stil orientierten „ästhetischen“ Photographien. Die von Charles-Henri Favrod, Philippe Lambelet und der equipe des Musee de l'Elysee konzipierte und in sehr kurzer Zeit realisierte Ausstellung stellt die Zeugenschaft des photographischen Bildes in den Vordergrund. Die Tanzszenen von Harald Hauswald, die Straßenbahnporträts von Evelyn Richter, die Wohnsilos in Berlin-Marzahn III von Jürgen Nagel oder die Leipzig-Bilder von Harald Kirschner - es sind Serien, die teilweise im Zeitraum von zwei Jahrzehnten entstanden sind und denen die Beharrlickeit abzulesen ist, die Vielfältigkeit eines Motivs photographisch in der Zeit erfahren zu wollen. In kürzester Zeitspanne entstand allein die Serie von Mauer-Bildern 1990 des Ostberliner Photographen Manfred Paul. Der jetzt einsetzende ökonomische Druck droht dieser Tradition sozialdokumentarischer Photographie ein Ende zu setzen, nicht mehr die gedankliche Durchdringung eines Motivs, sondern die Geschwindigkeit seiner photographischen Bewältigung wird von nun an den Markt beherrschen. Neue, hier präsentierte Presseagenturen wie die Agentur 'Dementi‘ aus Polen oder 'Radost‘ aus der CSFR werden nicht nur weitere Aufklärungsarbeit zu leisten haben, sondern müssen nun auch der machtvollen Bilderkonsumtion des Westens widerstehen. Was in dieser Ausstellung von über 2.000 Photographien noch einen authentischen Augenschein enthüllt, kann sehr schnell von der Struktur westlicher Simulationstechnik verklärt werden. Die DDR hat es schon erfahren: 'adn‘, Photographen und Journalisten, Tages- und Wochenzeitungen sind längst in den Händen des Informationsmonopols von Bertelsmann, Springer oder Maxwell.

Die Ausstellung ist noch bis zum 29. Juli im Palais de Beaulieu in Lausanne zu sehen. Eine Auswahl der Photographien für eine Wanderausstellung ist in Vorbereitung. Der Katalog kostet 28 Franken.

P.S.: Seit einiger Zeit scheuen sich Galeristen nicht, die osteuropäischen Photographen mit Knebelverträgen oder besser gleich gar keinen auszubeuten. Galerien bestellen Bilder für angebliche Ausstellungen, versprechen den Photographen, die Not haben, sich Papier zu besorgen, Bekanntheit und Geld und lassen nach Erhalt der Bilder nichts mehr von sich hören, veräußern die Photographien an Dritte oder senden sie nicht mehr zurück. Die Pforzheimer Galerie European Art ist nur ein Beispiel unter leider sehr vielen. Darüber später mehr.

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