Alice im Kaufhausschloß

■ Wie ein Provinzmädchen im KaDeWe erwachsen wird

Ich hatte am Ende der Welt gelebt. Ich kannte den Krach, den die Wellen machen, wenn sie gegen den Deich schlagen, und ich sehnte mich nach dem Krach des Straßenverkehrs in der Stadt. Ich haßte das eintönige Tuten des Nebelhorns und träumte vom Gequietsche der Autos an den Ampelkreuzungen. Durch den dicken Nebel sah ich die „Lichter der Großstadt“.

Als ich volljährig war, zog ich nach Berlin. Ich wohnte in der Goethestraße, konnte vom Fenster meines möblierten Zimmers aus den Kirchturm sehen und kaufte mir auf dem Wochenmarkt Mohnkuchen. Es war Anfang der sechziger Jahre. Wir trugen Kostüme, wenn wir uns feinmachten, Jeans waren noch nicht Einheitskleidung, und es gab noch nicht die Pille. Wir waren nett und anständig und zweifelten nicht an der Bundesrepublik. Berlin war groß, laut und ohne Mauer. Berlin war Weltstadt, und ich wollte dazugehören. Stundenlang stand ich nach Theaterkarten an, bestellte in der „Grauen Laus“ schüchtern Bier und frühstückte morgens um sechs Uhr Spaghetti im „Old Vienna“.

Im Film gehen solche Mädchen dem Glück entgegen, oder sie gehen unter. Ich ging ins KaDeWe. Manchmal jeden Tag. Oft stand ich schon ganz früh am noch verschlossenen Haupteingang, um als erste einzutreten. Wenigstens einmal wollte ich ganz alleine die Rolltreppe hochfahren, und der livrierte Fahrstuhlführer sollte für mich auf die Knöpfe drücken. Aber der hat natürlich jedesmal auf andere gewartet. Immer wieder stand ich staunend in der Mitte der Eingangshalle und wünschte mir, daß mir wenigstens einer dieser prächtig glitzernden Klunker im meinen Campingbeutel fallen würde. Die breite Freitreppe, mit dickem Teppich belegt und mit geschwungenem Geländer, führte zur Abteilung Bettwäsche im ersten Stock. Von dort sah ich runter auf die Stoffabteilung und beobachtete die Verkäuferinnen. Sie nahmen die Tücher von den Warentischen, ordneten Stoffballen, wischten Staub und grüßten höflich-scheu die Abteilungsleiter. Ein Kaufhaus am Morgen ist wie ein Bahnhof vor Einfahrt des ersten Zuges. Leute gehen, stehen müde und scheinbar ziellos herum. Noch ist alles ruhig, aber die Gereiztheit des Tages ist schon spürbar.

Ich ging durch das KaDeWe wie durch ein Museum, sah mir Abteilungen an, die mir gleichgültig waren, wie Herrensocken und Herrenstrümpfe. Auch die Vitrinen mit dem albern-teuren Glitzerschmuck interessierten mich nicht. In der Lebensmittelabteilung, lange nicht so exklusiv und exotisch wie heute, vergaß ich jeden Hunger. Mir schienen die Waren unecht wie Filmdekorationen. Aber manchmal leistete ich mir einen Kaffee auf der Silberterrasse, wo heute noch die Damen sitzen, die den Hut aufbehalten.

Am liebsten ging ich in die Kurzwarenabteilung und sah mir Knöpfe an. Die waren noch nicht so schick in durchsichtigen Röhrchen und Schälchen aufbewahrt, sondern meist in simplen Pappkästen mit aufgenähtem Musterknopf. Ich hatte wenig Geld, aber auch wenig Bedürfnisse. Für einen schönen Knopf langte es immer. Manchmal ließ ich mir zu einem Knopf eine Stoffprobe geben, obwohl ich gar nicht nähte. Ich redete mit den Verkäuferinnen über Kleiderschnitte, Nähgarn, Saumbreite und bekam oft den Ratschlag, doch erst den Stoff und dann die Knöpfe zu kaufen.

Ich ging auch regelmäßig in den dritten Stock in die Buchabteilung. Da gab es den Tisch mit Bestsellern für Leute, die sich nicht in eine Buchhandlung trauten, und einen Tisch mit Bildbandstapeln. Es gab billige, bunte Kinderbücher mit abwaschbarem Einband und jede Menge Koch und Handarbeitsbücher. Dann war da noch ein Tisch mit Klassikern, grün eingebunden mit Lederrücken und Goldprägung: Brüder Karamasov, Schuld und Sühne, Die drei Musketiere. Alle waren im Eduard-Kaiser-Verlag erschienen und von Eduard Kaiser persönlich gekürzt. Aber das beste war die Löwit-Liste. Das war ein Grossistenangebot mit Remittenden und Restexemplaren. Noch heute bin ich beglückt über Bücher, die ich damals zum Preis einer Tasse Kaffee kaufte.

Eines Tages bewarb ich mich im KaDeWe als Verkäuferin. Ich mußte einen Fragebogen ausfüllen und einem älteren Herrn die Hand geben. Sie stellten mich aushilfsweise ein für die Buchabteilung. Die lag zwischen der Kunstgewerbe- und der Bilderrahmenabteilung. Ich fing als Mädchen für alles an, mußte auspacken, Bücher stapeln, aufräumen und Staub wischen. Verkaufen mußte ich nur selten, das taten die Festangestellten. Mir war es egal, ich fand alles so spannend, daß ich mich gerne überall hinschicken ließ. Meine Kolleginnen waren jung und gesprächig und alle echte Berlinerinnen. Es gab nicht viel zu tun, und der Abteilungsleiter und die Erste Verkäuferin hatten nichts dagegen, wenn wir rumstanden und quatschten. Dabei wurde mir deutlich gemacht, daß ich Berlin überhaupt nicht kannte, und ich fühlte mich wieder ganz neu und ahnungslos. Auch das KaDeWe kannte ich nicht, dauernd verlief ich mich auf dem Weg von der Hauptkasse zum Personalbüro, von der Kantine zu den Waschräumen. Wir hatten Pausen in drei Schichten, und ich wurde immer von irgendeiner Gruppe mitgenommen. Ich war eben lieb, ruhig und ein bißchen dusselig. Man konnte mir die ältesten Geschichten erzählen, ich wunderte mich über alles. Am spannendsten war „Leutekunde“. Da war die attraktive Schwarzhaarige, die immer Besuch von Verehrern erhielt, und die Blonde, die mit einem Schwarzen lebte. Immer wieder lief ich durchs KaDeWe, um die Leute zu den Klatschgeschichten zu suchen.

Einmal wurde ich mit einem bedeutungsvollen Grinsen in die Dekorationsabteilung geschickt, um Preise zu holen. Ich wußte, daß da fast nur Männer arbeiteten, und war ziemlich unsicher. Ich dachte, wenn ich die Brille abnehme, sehe ich nicht die doofen Gesten und das Feixen. Aber oben im fünften Stock gab es soviel zu sehen, daß ich schnell meine Angst vergaß. Bunte, leuchtende Klamotten lagen auf Fußboden und Tischen herum. Stoffe, Spitzen, Folien in den herrlichsten Farben und dazu Holz, Pappe, Leisten - ein wunderbares Durcheinander. An den Wänden standen nackte Schaufensterpuppen, ordentlich aufgereiht wie zu einem Appell. Meine Neugier und meine Begeisterung waren so ungebremst, daß ich Glitzerkram und Stoffreste geschenkt bekam. Die Reaktion meiner Kolleginnen aus der Buchabteilung war mir ziemlich unverständlich, und ich bekam das Gefühl, etwas Entscheidendes nicht bemerkt zu haben.

In der Bilderrahmenabteilung arbeiteten zwei Frauen. Die eine, eine dralle Blondgefärbte, hatte sich gleich am Anfang schützend um mich gekümmert, damit ich nicht auf alle Scherze meiner Kolleginnen hereinfiel. Die fragte ich. Sie erzählte mir, daß viele Schwule im KaDeWe arbeiteten, besonders in der Herrenabteilung, der Gardinenabteilung und in der Dekoration. Sie erklärte mir den Paragraphen 175 und die Repressalien, die diese Männer aushalten müßten. Im KaDeWe könnten sie relativ unbelästigt arbeiten und sogar Karriere machen. Ich hatte davon noch nie so genau gehört, und langsam ahnte ich, daß Großstadt mehr ist als viele Menschen, Trubel und Lärm. In den nächsten Tagen ging ich („sei aber nicht so aufdringlich“, mahnte meine kluge Freundin) durchs Kaufhaus, Schwule angucken. Ich tat das mit der Naivität einer Provinzgöre, und bald hatte ich den wissenden Blick. Da war der große, schlanke, dezent geschminkte Mann aus der Stoffabteilung. Er hatte einen so eleganten Gang, daß ich ihn vorher für einen Tänzer gehalten hatte. Und da war der hübsche Blonde mit den langen Wimpern. Schließlich war ich vertraut mit all den Klischees und Vorurteilen, die die Großstadt mit der Provinz verbinden.

An einem Vormittag wurde ich von der Damenkonfektion angefordert. Ich durfte Kleider auspacken: Kleider aus Organza, Tüll, Taft, übersäht mit Pailletten, Federn und Spitzen. So was hatte ich noch nie gesehen, nicht mal in alten Ufa-Filmen trugen die Stars solche Pracht. Merkwürdigerweise waren viele Kleider sehr groß. Ich fragte die Einkäuferin, wer das kauft. „Unsere Transvestiten“, sagte sie. Ich wußte nicht, was das ist, und zum ersten Mal hörte ich den Satz: „Klär'n wir ihr uff, oder lassen wir ihr doof sterben?“ Wieder erhielt ich Großstadtunterricht. Man erzählte mir von Lokalen in der Augsburger und Nürnberger Straße und von den Männern, die dort in Frauenkleidern arbeiteten. Im KaDeWe waren viele Stammkunden, und die Einkäuferin war stolz auf das große Warenangebot, sogar Schuhe gab es. „So was gibt es in ganz Deutschland nicht.“ Und weil ich nicht wußte, wie Transvestiten aussahen, sagte sie, ich könne am frühen Nachmittag mal gucken kommen. Also flitzte ich immer mal schnell aus der Buchabteilung weg, nachsichtig belächelt von den Kolleginnen. Bald war mein Urteil fertig: Die sind auch nicht anders, bloß anders. Über den Satz hat man viel gelacht, aber die Frau aus der Bilderrahmenabteilung fand ihn richtig.

Die Bilderrahmenabteilung war klein und das Warenangebot geschmacklos. Außer der blonden Frau arbeitete dort noch eine zierliche dunkelhaarige Frau. Sie redete kaum mit mir, ich hatte aber nicht das Gefühl, daß sie mich nicht mochte. Einmal rief sie mich zum Auspacken der großen Kartons. Wir hatten Messer, aber die Klebstoffe waren sehr stabil. Die Frau krempelte die Ärmel hoch und stemmte sich gegen den Pappdeckel. Da sah ich die eingebrannte Nummer. Ich starrte mit dem Messer in der Hand auf ihren Unterarm. Dann warf ich das Messer weg und setzte mich auf einen Hocker in der Ecke. Ich weiß nicht, was ich gedacht habe, vielleicht habe ich nichts gedacht. Ich weiß auch nicht, wie lange ich dort gesessen habe. Niemand störte mich. Irgendwann bin ich zurückgegangen und sagte „Entschuldigung - für alles.“ Sie sagte: „Schon gut.“ Dann arbeiteten wir weiter. Von da an redete sie mit mir. Sie erzählte wie alle anderen vom Einkaufen, vom Kochen, vom Wochenende, von der Kindern. Die blonde Frau erzählte mir später, daß im KaDeWe noch mehr Juden arbeiteten. Im Hause würde darüber nicht geredet, nur die Kunden wären manchmal sehr taktlos.

Ich lief nicht durch das Haus, Juden angucken.

Ich war schon Monate Verkäuferin, es gefiel mir noch. Ich bediente wenig, aber es reichte. Als mich die jüdische Kollegin einmal fragte, was ich später vorhätte, mußte ich zugeben, daß ich noch nicht darüber nachgedacht hatte. Sie fragte mich, warum ich nicht noch mal zur Schule gehen wolle. „Man kann dem Menschen alles wegnehmen, nur nicht, was er im Kopf hat“, sagte sie. Ich versprach, darüber nachzudenken. Ab und zu kamen ihre beiden Töchter zu Besuch oder mal ihr Mann, der in der Tischlerei arbeitete. Dann unterhielten sie sich über den bevorstehenden Schulwechsel der Ältesten. Die Tochter wolle aufs Französische Gymnasium, der Vater fand das sehr gut, aber die Mutter dachte an das teure Schulgeld. Schließlich wurde ich gerufen, um meine Meinung zu sagen. Für mich war das einfach. Ich sagte: „Man kann dem Menschen alles wegnehmen, nur nicht, was er im Kopf hat, und Französisch gehört da rein.“ Alle lachten, und die Entscheidung war gefallen. Die Tochter strahlte, und ich hatte auf einmal das Gefühl, Schicksal gemacht zu haben.

Ich blieb nicht mehr lange im KaDeWe, ich arbeitete mal hier, mal dort. Ich bekam eine Tochter, ich ging zur Uni, ich zog auch mal wieder in die Provinz.

Heute gehe ich nur noch selten ins KaDeWe. Es ist mir zu groß, zu voll, zu unübersichtlich. Nur die Kosmetikabteilung im Erdgeschoß hat noch etwas von einer Zauberwelt. Überall Spiegel, glänzende Folien, schillernde Stoffe, blanke Tische; überall wunderschöne Flaschen, Töpfe, Etuis, wohlklingende Namen. Feingekleidete Schaufensterpuppen widmen sich den Kundinnen vornehm und unnahbar, als seien sie Verkäuferinnen. Und über der ganzen Abteilung schwebt ein kühler, edler Duft. Eine Zeitlang stand ein Sofa vor einer Spiegelwand. Ein Sofa aus ganz weichem, hellgrauem Leder, ein Sofa zum Versinken und Vergessen. Manchmal habe ich da gesessen und mir die Spiegelwelt angesehen wie Alice im Wunderland. Ich habe mir Geschichten ausgedacht, und niemand hat mich gestört an diesem ruhigsten Platz von Berlin.

Einmal habe ich mir vorgestellt, ich sei eine arme Frau mit vielen, vielen Kindern, die sich dauernd kloppen und anspucken, der Ehemann versäuft das Haushaltsgeld... - und ich verzweifelt mit Dreiecksbus zum „Großen Fenster“, um mich in der Havel zu versenken. Aber plötzlich kommt eine wunderschöne Fee von Linique oder Jopp oder Sheridon und zaubert mich zum Sofa ins KaDeWe. Dort würde ich dann sitzen, exquisit geschminkt und gekleidet und mit perlmutterfarbenen Fingernägeln - und würde warten. Nach einer Weile würden die Verkäuferinnen auf mich aufmerksam werden und tuscheln. Schließlich käme die mutigste, um mich zu fragen, ob ich einen Wunsch hätte. Ich würde andeutungsweise lächelnd - sagen: „Nein danke. Ich warte hier auf meinen Mann. Der kauft gerade Geschenke für mich, und Sie wissen ja, wie lange so was bei Männern dauert.“

Die haben das Sofa weggenommen.

Lene Reckenfelder