Kapitalismus killt Kirschen

■ Tonnenweise verfaulen Kirschen im Havelland, weil westliche Handelsketten nur „einen halben LKW“ ankaufen / Belieferung der Kaufhallen durch LPGs stockt / AL startet Solidaritätsaktion „Kirschen in Nachbars Garten“

Ost-Berlin. Sozusagen „aus Nachbars Garten“, aus dem überaus ergiebigen Havelland, stammt eine Kiste mit dunklen, prallen Sauerkirschen, die gestern ein Obstbauer der ehe maligen Landwirtschaftlichen Pro duktionsgenossenschaft (LPG) „Werder-Frucht“ auf Einladung der AL im Rathaus Schöneberg präsentierte. Franze, Vorstandsmitglied der Werderschen Fruchthandelsgenossenschaft in spe, wollte damit höchst anschaulich auf ein drängendes Absatzproblem hinweisen: Tausende Tonnen von Kirschen drohen zu vergammeln, weil die westlichen Handelsketten, die sich in Ost-Berlin und der DDR etabliert haben, von den Früchten „allenfalls einen halben Triebwagen vom LKW“ ankaufen.

Zwar keine Lösung, so Franze, aber „ein Aufschrei“ sei vor diesem Hintergrund eine aufsehenerregende Solidaritätsaktion der AL. Unter dem Motto „Kirschen aus Nachbars Garten“ will die AL-Fraktion am Samstag mit Hilfe der AL-Bezirksgruppen „mindestens 20.000 Tonnen“ Kirschen direkt an den Endverbraucher bringen. Der Aktionskoordinator Büttner sprach angesichts der Menge gestern von einer „nicht nur symbolischen“ Unternehmung. Orientiert an den Marktpreisen, die bei Sauerkirschen derzeit um drei DM pro Kilo, bei Süßkirschen um fünf bis sechs DM pro Kilo liegen, sollen die Früchte möglichst in allen Bezirken an einem zentralen Marktplatz verkauft werden. Wie Büttner mitteilte, gelang es bis gestern, bereits sechs Verkaufsstandorte zu organisieren: in Hermsdorf (Heinse-/ Ecke Fellbacher Straße), in Britz-Süd (gegenüber der Gutschmidtstraße), in Steglitz (Karnoldplatz), in Schöneberg (Crellemarkt), in Wilmersdorf (der Platz vor der Hohenzollernkirche) sowie in Charlottenburg (Wilmersdorfer/ Ecke Pestalozzistraße). Wie es weiter hieß, wird die Verkaufsaktion offiziell am Freitag morgen um neun Uhr vor dem Schöneberger Rathaus gestartet. Unterstützt vom Bündnis 90 und den DDR-Grünen soll es am Alexanderplatz einen zeitgleichen Auftakt zum Kirschenverkauf geben.

Dem Obstbauer Franze zufolge wurden von den vier großen LPGs im Havelland dieses Jahr etwa 4.000 Tonnen Süß- und Sauerkirschen angebaut. Der qualitative Befund auf einer „Vorkostung“ letzten Sonntag: „Die Kirsche schmeckt, ist aber zu klein.“ Somit sei ein Abnahmevertrag nicht zustande gekommen. Franze: „Früher hatten wir in Berlin nicht nur über LKW verkauft, sondern 62 Kaufhallen täglich angefahren. Auch in Potsdam wurden alle großen Kaufhallen beliefert.“

Zusätzliches Problem: In dem Betrieb, der die Kirschen im Havelländischen industriell zu Rohsaft weiterverarbeitet, kann derzeit am Wochenende nicht gearbeitet werden. Das Geld zur Zahlung der entsprechenden Lohnaufschläge fehlt. Außerdem, so der Obstbauer, sei im verwöhnten Berlin „nur Superware“ gefragt. Gleichwohl bezeichnete der AL -Abgeordnete Köppl gestern als Hauptziel der Aktion, demonstrativ den aktiven Boykott der westlichen Einzelhandelskonzerne zu durchbrechen. Speziell der Ostberliner Wirtschaftsstadtrat Pieroth (CDU) sei aufgefordert, in Verhandlungen diesen Boykott aufzubrechen.

Sicherlich sei der Absatz der Kirschen in den Ostberliner Konsum-Läden zur Zeit „nicht optimal gelöst“, so dazu der Stellvertreter Pieroths, Hedrich, in einer Stellungnahme. Möglicherweise könne die Problematik von Pieroth in ein geplantes Gespräch mit der Konsumgenossenschaft eingebracht werden. Darüber hinaus ist es laut Hedrich dem Magistrat aber „nicht gegeben“, jetzt durch eine direkte Stützungsmaßnahme den Absatz der Kirschen zu garan tieren.

Auch beim Westberliner Wirtschaftssenator sah man auf Anfrage keinerlei Möglichkeiten, den Fruchthof zu einer verstärkten Abnahme der Ostkirschen zu bewegen. Das sei allein eine „Sache von Angebot und Nachfrage“. Sein persönliches Geschmacksurteil: „Die Kirschen sind so sauer, da ziehen sich bei mir die Zähne zusammen.“ Überraschend allerdings die Auskunft eines Sprechers der Westberliner Rewe-Handelsgruppe: „Die Kameraden von der LPG Werder-Frucht haben uns selbst gesagt, sie hätten keine Qualität, die man im Moment anbieten kann.“

thok