Verrät nicht die Verräter

■ Ein paar mögliche Gründe für den ungewöhnlichen Kinoerfolg von Peter Weirs „Club der toten Dichter“

Anfang der Woche waren es 2.777.881 Besucher: Seit 25. Januar, also seit knapp einem halben Jahr läuft Peter Weirs Club der toten Dichter nun in den bundesdeutschen Kinos. Die drei Millionen - und damit die Goldene Leinwand - sind dem Film so gut wie sicher. Dabei gab es weder eine große Werbekampagne, noch hymnische Kritiken. Das hartnäckige Publikumsinteresse: ein Fall von Mundpropaganda. Etwas Ähnliches geschah im vergangenen Jahr mit Joseph Vilsmaiers Herbstmilch, nur daß Der Club der toten Dichter auch in anderen europäischen Ländern und vor allem in den USA zum Überraschungserfolg wurde; in Amerika spielte er über 50 Millionen Dollar ein. Es handelt sich also um ein internationales Phänomen.

An den malerischen Landschaftsaufnahmen aus der Gegend von Vermont, am Hauptdarsteller Robin Williams alleine kann's nicht liegen; Auch nicht am Thema: Wer interessiert sich schon für ein elitäres Jungs-Internat in den USA der 50er Jahre? Aber immerhin garantiert das schulische Environment einen hohen Identifikationsgrad: Wer hat nicht die Schule als finsteres Gemäuer erlebt oder sie zumindest nachträglich so im Gedächtnis? Und wer hatte nicht einen Lieblingslehrer oder eine Lieblingslehrerin, die im grauen Schulalltag durch ihre bloße Existenz bewies, daß es noch etwas anderes gibt als Leistungsstress?

Weirs Film erzählt auf leise, fast zärtliche Weise, die Geschichte einer gescheiterten Revolte. Sie beginnt ganz harmlos mit heimlichen nächtlichen Treffen in einer dem Internat nahegelegenen Höhle, mit Gedichte-Vorlesen, der ersten Zigarette, der ersten Annäherungen an die Mädchen. Robin Williams als Englischlehrer Keating ermutigt die Elite -Knaben zur sanften Revolution. „Die meisten Menschen“, sagt er, „führen ein Leben in stiller Verzweiflung“. Er hält dagegen und lehrt sie, im Wortsinn, den individuellen Gang: Gehstunde auf dem Schulhof.

Die Revolte scheitert. Um ihre eigene Haut zu retten, verraten die Schüler den Lehrer. Der junge Neill verzweifelt und begeht Selbstmord, die andern raffen sich zum Abschied Keatings zu einer letzten Solidaritätserklärung auf und steigen in schweigendem Protest auf ihre Pulte. Danach, das zeigt der Film nicht mehr, werden sie vermutlich brav ihre Literaturtheorie studieren, von der Keating so wenig hielt, daß er die Schüler zum Herausreißen der Seiten aus ihrem Lehrbuch ermuntert hatte.

Der Film spielt in den 50er Jahren. Die meisten Kinozuschauer werden in den 60er und 70er Jahren aufgewachsen sein und erleichtert feststellen, daß trotz aller Ähnlichkeit die eigene Schulzeit so schlimm doch nicht war, die Verbote nicht so rigide, die Eltern und Lehrer nicht ganz so herzlose Monstren wie das Personal im Club der toten Dichter, ein Selbstmord nicht nötig. Weirs Film: ein Trost.

Zudem tröstet er doppelt. Der große Aufstand mißlingt, was gelingt, ist ein klein bißchen Widerstand. Die Schüler scheitern am System, müssen daran scheitern, die Schlußszene tröstet über dieses Scheitern hinweg. Der Club der toten Dichter hält ein Plädoyer für die Individualität, das zugleich seine eigene Vergeblichkeit einbekennt. Weirs Film versöhnt mit der eigenen Mittelmäßigkeit, mit dem Wissen, daß der große Lebensentwurf längst begraben ist, daß man zwar das wird, was man werden wollte, bloß ein paar Nummern kleiner. Die Schlußszene - die Schüler steigen nicht den Lehrern aufs Dach, sondern nur auf ihre Pulte - macht eben diese Geste: Tut uns leid, aber zu mehr sind wir nicht in der Lage.

Der Club der toten Dichter hat ein Vorbild: Lindsay Andersons if..., ein Kultfilm, diese Internatsgeschichte endete mit einer blutigen Revolte. if... stammt aus dem Jahr 1968, Weirs Hollywood-Film ist 20 Jahre jünger, ein Film für die Kinder der 68er-Generation. Er enthält sogar eine versteckte Widmung an if...: Der schüchternste Schüler in Weirs Internat, der den 'illegalen‘ Club nicht mitgründen will, der sich nicht traut, sein Gedicht vorzutragen und der am Ende als erster aufs Pult steigt, heißt Anderson.

Das elitäre Welton-Internat besteht aus einer reinen Männergesellschaft, Frauen kommen bestenfalls als nette Mädchen vor. Weirs Film zeigt, vielleicht unfreiwillig, nicht nur, daß Männer keineswegs mutig sind, sondern daß Männerbünde auf Verrat beruhen. Der Club hat den Verrat des Lehrers und den Selbstmord Neills nicht nur zur Folge, er setzt diese Opfer zugleich voraus: ein treffenderer Filmtitel läßt sich nicht denken.

Weirs Film erzählt präzise und ehrlich, wie Männer werden, was sie sind. Das gibt es selten genug im Kino. Sein Erfolg beruht jedoch vermutlich auf der Tatsache, daß er diese Männer selbst nicht verrät.

Seit letzter Woche läuft der Film auch in einigen Städten in der DDR, demnächst auch in Berlin.

Christiane Peitz