„Wir müssen das Parteieigentum dem Volk übergeben“

■ Jurij Boldyrjew tritt für Chancengleichheit aller Parteien ein / „Gorbatschow bedroht die Futterkrippen“

INTERVIEW

Der Parteitagsdelegierte Jurij Boldyrjew ist mit 30 Jahren einer der jüngsten, aber auch aktivsten Abgeordneten des Obersten Sowjet. Er gehört der „Überregionalen Deputiertengruppe“ und der „Demokratischen Plattform in der KPdSU“ an.

taz: Die Moldauer Delegation hat sich beim Parteitagspräsidium über Sie beschwert, weil Sie während der Sitzungen auf Ihrem Platz herumhüpfen und nicht zur Sache gehörige Literatur lesen. Das stand auch in der Zeitung.

Boldyrjew: „Hüpfen“ ist ein bißchen zu stark ausgedrückt. Aber ich bin der Ansicht, daß ein Kongreß nicht arbeiten kann, wenn alle mit gefalteten Händen dasitzen wie die Erstkläßler. Man muß sich doch Notizen machen können und zwischendurch auch einmal ins Sekretariat gehen oder ein Dokument vervielfältigen.

Was haben Sie denn gelesen, was diese Leute so aufbringt?

Ich habe mehr geschrieben, und das Ganze ist doch nur ein Vorwand. Was diese Leute wirklich reizt, ist meine Position zum Parteieigentum. Ich bin der Ansicht, daß wir dieses Eigentum heute freiwillig dem Volk übergeben sollten. Wenn wir das nämlich nicht tun, dann wird das Volk es sich morgen selbst nehmen, und dann wird es für Reue zu spät sein. Während ja die übergroße Mehrheit der einfachen Parteimitglieder von diesem Eigentum nie etwas gesehen haben, nutzen es die meisten der hier auf dem Kongreß Anwesenden - und zwar für sich persönlich.

Haben Sie Beweise?

Aus dem letzten Budget der KPdSU geht hervor, daß die Aufwendungen für „verantwortliche Parteiangestellte“ 460 Millionen Rubel im Jahr betragen, die Löhne für die Sekretäre der Grundorganisationen dagegen nur 282 Millionen. Daraus ergibt sich, daß die KPdSU ihre Einnahmen nicht wie jede normale Partei an die Grundorganisationen weiterleitet, sondern vor allem der Parteispitze zukommen läßt. Und diese Angaben sind wahrscheinlich noch frisiert. Aus dem gleichen Dokument läßt sich auch die Haupteinnahmequelle der Partei erschließen, nämlich ihr Verlagsmonopol. Ihre Verlage haben der Partei allein im letzten Jahr 1,6 Milliarden Rubel eingebracht. Wenn in einem anderen Land die Menschen Produkte eines Parteiverlages kaufen, dann tun sie es, weil sie sich speziell für diese Partei interessieren. Bei uns müssen die Leute zu Parteipublikationen greifen, wenn sie überhaupt irgendetwas lesen wollen. In diesem Jahr hat die KPdSU schon 29 Millionen Rubel gegen harte Währungen eingetauscht. Leider konnte ich nicht herausbekommen, ob es sich um Valuta-Rubel oder gewöhnliche Rubel gehandelt hat, mit anderen Worten, ob sie dafür 40 oder vier Millionen Dollar bekommen hat. In diesem Jahr hat die Partei 1.300 Personenwagen zu Preisen versteigert, die die Handelspreise zum Teil um das Fünffache übersteigen. Der Oberste Sowjet konnte hingegen nur 650 Autos verkaufen.

Die Partei soll von all dem nichts behalten?

Sie sollte sich auf ein Kapital beschränken, das etwa den Mitgliedsbeiträgen von drei Monaten entspricht. Damit hätte sie gleiche Startbedingungen wie die anderen Parteien. Gorbatschow hat in seinem Grundsatzreferat dargelegt, daß bald ein Mehrparteiensystem eingeführt werden soll, in dem alle politischen Kräfte gleichberechtigt sein sollen. Nun bekommen aber KPdSU-Funktionäre, die in den Betrieben für reine Parteiarbeit freigestellt sind, aus Betriebsmitteln Prämien ausgezahlt. Sollen die Betriebe das jetzt etwa für Vertreter aller Parteien aufbringen? Agitatoren, die jahrelang in der Armee oder im KGB arbeiteten, bekommen diese Zeit auf ihre Pensionen angerechnet, und dabei dürfen sie auch noch zwei Jahre früher in Rente gehen als gewöhnliche Arbeiter oder Angestellte. Noch grotesker sieht es bei den Gebäuden aus. Erst letzten Monat hat der Ministerrat der UdSSR den Leningrader Stadtsowjet angewiesen, den Smolnyj-Palast, den Taurischen Palast und noch ein paar historische Gebäude der KPdSU zu übereignen. Sollten dann etwa die „Demokratische Union“, die Sozialdemokraten oder die „Demokratische Partei“ Nikolai Trawkins und all die anderen frischgebackenen politischen Organisationen auch je ein paar Schlösser und Paläste erhalten?

Und was wollen Sie unternehmen?

Ich habe eine Resolution über das Parteieigentum entworfen, die von der „Demokratischen Plattform“ unterstützt wird. Wir haben den Antrag gestellt, daß das Dokument allen Delegierten hier ausgehändigt wird, und wollen es zur Abstimmung stellen. Wahrscheinlich wird das Präsidium darauf gar nicht eingehen, aber immerhin haben wir einen historischen Präzedenzfall geschaffen.

Wundert es Sie nicht, daß die Resolutionen des Parteitages ihrem Inhalt nach bisweilen kraß von den konservativen Tönen abweichen, die hier vorherrschen?

Das wundert mich überhaupt nicht, weil ich das aus dem Obersten Sowjet sehr gut kenne. Auch dort haben wir oft das Phänomen, daß die Tonlage der Debatten im Gegensatz zu den Abstimmungsergebnissen steht. Diese werden nämlich durch irgendwelche Kabalen herbeigeführt. Und hier entscheiden sich in diesen Tagen, wie Boris Jelzin ganz richtig gesagt hat, die persönlichen Schicksale der Parteioberen. Und das macht den Saal so aggressiv, unter anderem auch gegen Gorbatschow, durch den sie ihre Futterkrippe bedroht sehen, ihren ganzen zusammengeklauten Plunder.

Wie schätzen Sie es ein, daß der alte Generalsekretär auch der neue ist?

Ich könnte es verstehen, wenn er nach diesem Amt gstrebt hat, um diese gefährliche Masse unter Kontrolle zu halten. Leider bringt der Posten auch das Risiko mit sich, daß diese Masse ihn kontrolliert.

Interview: Barbara Kerneck