: Weibliche Sucht ist verborgene Sucht
■ Spezifische Frauensuchttherapien sind überfällig / Männerrolle bei weiblichen Suchtkarrieren muß thematisiert werden
West-Berlin. Süchtige Frauen, das meint alles; von der tablettenverschlingenden Hausfrau über die Trinkerin, von der Eßgestörten bis zur Heroinabhängigen. Zum Thema Frauen und Sucht fand in dieser Woche eine Fachtagung in der sozialpädagogischen Fortbildungsstätte „Haus am Rupenhorn“ statt. Geladen hatten dazu die sozialpädagogische Einrichtung selbst in Zusammenarbeit mit Violetta Clean und Extra Dry. So vielschichtig wie die Verbraucherinnen ist auch das Therapiebedürfnis. So unterschiedlich wie die Gründe sind auch die Auswirkungen. Zu dieser Fachtagung kamen Frauen, die mit unterschiedlichen Suchtabhängigen arbeiten, zusammen. Schnell wurde deutlich, daß es zwar gemeinsame Forderungen (Gesetzesänderungen, Straffreiheit für anzeigende drogenabhängige, sich prostituierende Frauen etc.) gibt, die Arbeit in den verschiedenen Bereichen aber sehr unterschiedlich ist. Es wurde ein Resümee 12jähriger frauenspezifischer Suchtarbeit gezogen und die eigene Situation kritisch beleuchtet. Vertreterinnen der Therapiestelle Violetta Clean, der Nachsorgestelle Cafe Extra Dry, der Frauendrogenstellen in Amsterdamm und der Anlaufstelle für drogenabhängige, sich prostituierende Frauen aus Zürich beschlossen den Aufbau eines Netzwerks.
Frauen und Sucht, ein Thema, das als geschlechtsspezifisches Problem, bislang noch nicht diskutiert wurde. Was das Suchtverhalten von Frauen von dem der Männer unterscheidet, wie die „weibliche“ Suchtkarriere aussieht und welche Probleme Frauentherapien aufwerfen, wurde diskutiert. Daß Frauen anderes Suchtverhalten aufweisen, ist laut Statistik eindeutig. Medikamentenmißbrauch ist zu 70-80 Prozent „Suchtdomäne“ der Frauen. Beim Alkoholmißbrauch ist zwar die Dunkelziffer der weiblichen Süchtigen extrem hoch - Frauen saufen selten öffentlich -, trotzdem ist Alkohol immer noch eine Männerdroge. Bei Eßstörungen - Magersucht, Bulimie (Freß und Kotzsucht) und Freßsucht - sind nur fünf Prozent der Betroffenen Männer. Heroinabhängigkeit ist zwar weder frauen - noch männerspezifisch, trotzdem sind der Weg zum Heroin und auch die Beschaffung von „H“ (Prostitution, Beschaffungskriminalität) sehr unterschiedlich.
Die ökonomische Abhängigkeit von Frauen, die zur Sucht führen kann, und der Hang zur unauffälligen Sucht wird von allen Frauensuchtprojekten gleich eingeschätzt. Auch die Forderung nach einer Veränderung der männlichen Gewaltstruktur und der Wunsch, die männliche Gewaltanwendung endlich zum Thema zu machen, vereint die Vertreterinnen. Was sie unterscheidet, ist die Wahl der Mittel, mit denen sie Hilfestellungen geben wollen.
So ist die Palette der Hilfs- und Therapieangebote für Süchtige weitgestreut. „Niedrigschwellige“ Projekte wie z.B. die Anlaufstellen in Zürich arbeiten mit Bussen, die auf dem Drogenstrich den Frauen außer sauberen Spritzen und Kondomen, Tee, Suppe und Dusche auch Schutz vor gewalttätigen Freiern anbie ten. Hinzu kommen wöchentliche Rechtsberatung und medizinische Versorgung für die - in der Illegalität lebenden - drogenabhängigen Prostituierten. Ursula Bohr und Maya Ehrsom, die Mitarbeiterinnen des Züricher Frauenbusses, sehen ihre Aufgabe nicht darin, „Frauen unbedingt clean zu machen oder in Therapie zu bringen. Wir wollen ihnen erst mal dort, wo sie sind, behilflich sein und die zunehmende Verelendung stoppen.“ Die Berliner Projekte wie Violetta Clean und Extra Dry zählen hingegen zu den „höherschwelligen“ Projekten. Sie sind Therapie- bzw. Nachsorgestellen und arbeiten nur mit Frauen, die körperlich schon entzogen haben. Ihnen geht es in den Frauentherapien darum, die Suchtpunkte und das individuelle Suchtverhalten herauszufinden und mit den Frauen auf ein relativ unabhängiges Dasein hinzuarbeiten. Gertrud Kutscher von Violetta Clean zur Motivation einer Frauentherapie: „Die Erfahrungen der Frauen in gemischten Therapien haben gezeigt, daß das Abhängigkeitsverhalten selten überwunden werden kann. Die Frauen haben Schwierigkeiten, in gemischten Therapien über ihre Erfahrungen auf dem Strich oder über sexuellen Mißbrauch (70-80 Prozent der Frauen wurden in ihrer Kindheit sexuell mißbraucht) reden zu können. Und eben das ist häufig die Motivation, zur Droge zu greifen. Das versuchen wir in Frauentherapien zu überwinden. Hier ist allen klar, daß alle andern dieselben Erfahrungen gemacht haben.“
Bei allen Anlaufstellen ist die Finanzierung das Hauptproblem, was zu als unzumutbar empfundenen Wartelisten von einem Jahr oder länger führt (bei Violetta Clean). Was die Frauen aus den Niederlanden, der Schweiz und der BRD noch verband, war ihre Kritik am Umgang der Medien mit diesem Thema. Sie vermißten alle eine Enttabuisierung der Täter, der Mißbraucher, der Dealer, der Zuhälter und der gewalttätigen Freier. Letztere wissen genau um die Illegalität und die Abhängigkeit der drogenabhängigen Prostituierten. Ursula Bohr aus Zürich: „Jeder zweite Freier verlangt Verkehr ohne Kondom und häufig auch ohne Bezahlung, weil klar ist, daß die Frauen nicht anzeigen können, da sie sich sonst selbst anzeigen würden. Auch die Gewaltanwendung der Freier ist bei Junk-Frauen bedeutend höher.“
In Norwegen machten Huren durch eine spektakuläre Aktion auf dieses Problem aufmerksam: Sie klebten Fahndungsplakate mit den Gesichtern der gewalttätigen Freier überall in die Stadt.
Annette Weber
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