Das Ende der Antifaschistischen Amtskirche

■ Als Wallfahrtsort gläubiger Kommunisten hat die Nationale Mahn- und Gedenkstätte („NMG“) Sachsenhausen ausgedient / Im Museum ist immerhin Ceausescu schon überklebt / Folge neuer Einsichten ist die überarbeitete Geschichte des sowjetischen NKWD-Lagers auf dem Gelände des ehemaligen KZ

Von Götz Aly

Eine halbe Autostunde, Berliner Ring/Abzweig Oranienburg: Das „Autohaus Wandlitz“ gibt seine Einstandsfete, Eduscho hat eröffnet, die Deutsche Bank ist in Oranienburg eingerückt, der Weg zur „Nationalen Mahn- und Gedenkstätte Sachsenhausen“, kurz: „NMG“, gut ausgeschildert. Ist die Vergangenheit der Bank einschlägig bekannt, so wird Eduscho kaum fürchten müssen, daß sich jemand des Bremer Kaffeegroßhändlers Hans Biebow erinnert, der, infolge der Seeblockade arbeitslos geworden, von 1940 bis 44 das Ghetto Lodz verwaltete und die Menschen dort zu Hunderttausenden in den Tod schickte.

Eher gleichgültig stehen die Bürger und Bürgerinnen von Oranienburg an diesem 2.Juli Schlange, holen das neue Geld, geben es aus. Daß es, wie Horst Sindermann im Vorwort zum Begleitheft über das ehemalige KZ schreibt, „der Monopolkapitalismus“, „die Brutalität einer untergehenden Gesellschaftsordnung“ gewesen sein sollen, die das in unmittelbarer Nachbarschaft gelegene Konzentrationslager hervorbrachten, interessiert ersichtlich niemanden; daß die älteren unter den Schlangenstehern selbst damit zu tun hatten, hielt ihnen nie jemand vor: Damals noch Kinder und an den Geruch von verbranntem Menschenfleisch gewöhnt, pflegten sie den vorbeimarschierenden Häftlingskolonnen zuzurufen: „Na, werden heute wieder die Russen verbrannt?!“

Solche Wahrheiten wird der Besucher in den Ausstellungen und Broschüren der NMG vergebens suchen: Der amtliche Antifaschismus der DDR geißelte das mörderische System und schonte den kleinen deutschen Mann.

„Während wenige Kilometer entfernt, in Berlin, die 'Olympischen Spiele 1936‘ eine glänzende Fassade vor die Kriegsvorbereitung der deutschen Konzerne setzten“ - so der offizielle Prospekt -, begann die SS damit, das KZ Sachsenhausen anzulegen. Die Häftlinge verrichteten Zwangsarbeit bei Siemens, Krupp, Flick, Rheinmetall-Borsig und Daimler-Benz, AEG oder DEMAG. In Sachsenhausen und in den dazugehörigen Außenlagern waren mehr als 204.000 Menschen inhaftiert. Mehr als 100.000 wurden ermordet, starben an den Folgen von Hunger, Seuchen und Folter, wurden durch Arbeit vernichtet. Bis das Lager am 22.April 1945 durch sowjetische und polnische Truppen befreit wurde.

„Besonders jetzt tu Deine Pflicht!“

Antifaschismus - das war in der DDR ein Stück Staatsreligion, die Einheit von Internationalismus und Widerstand, Befreiung und fortdauernder Wachsamkeit. Antifaschismus war die Legitimation für ein neues anderes Deutschland. Bis zum Dezember des vergangenen Jahres wurden auf dem Appellplatz des Lagers regelmäßig Rekruten der Nationalen Volksarmee vereidigt, und das vorläufig letzte, am 15.Oktober 1989 erschienene, auf Hochglanzpapier gedruckte Dokumentenheft der Gedenkstätte trägt den zweifelsohne programmatisch gemeinten Titel ...besonders jetzt tu Deine Pflicht!

Nach wenigen Schritten findet sich der Besucher dort, wo in der ehemaligen Küche die Organisation des Lagers, die Leiden der Häftlinge, die Morde mit Giftgas und Genickschußanlage dokumentiert sind; der Rundgang beginnt im „Museum des antifaschistischen Freiheitskampfes der europäischen Völker“. An der Stirnwand der Eingangshalle ein riesiges Triptychon aus buntem Glas: „Für die Freiheit und Unabhängigkeit des Vaterlandes“ - „Friede“ - „Tod den Feinden des Vaterlandes“, so lauten die hier verkündeten Sakramente.

Im Hintergrund, grau, aber entschlossen die proletarischen Massen, sie verbrüdern sich, diskutieren und sind bis an die Zähne bewaffnet. Im Vordergrund des linken Seitenflügels blickt eine jedem Ansturm trotzende Kleinfamilie breitbeinig und energisch ins Nichts. Im Mittelbild die Mauer der Bewaffneten: Zwei Männer, eine Frau, ein Kind. Die Hand zum Schwur, die rote Fahne gereckt, das wohl siebenjährige Mädchen auf dem Arm. Es hat kleine Finger, aber die brechen nicht so leicht. Furchtlos und fest umschließen sie, die Gewehre sind zu schwer, ein gewissermaßen kindgerechtes Utensil des antifaschistischen Kampfes - die Eierhandgranate. Der rechte Seitenflügel zeigt den Leichnam des im Kampf Gefallenen. Der heranwachsende Sohn steht daneben, hat die Waffe des Vaters übernommen, aufrecht sitzend die Trauernde. Statt des geliebten Mannes hält sie nun das Schnellfeuergewehr im Arm.

„Wunderbare Heldentaten“

Ähnlich kämpferisch, aber alles andere als einheitlich die Ausstellung: Zusammengestellt wurde sie von den in aller Regel kommunistisch dominierten Lagergemeinschaften der Länder, aus denen Häftlinge nach Sachsenhausen deportiert wurden. Pro Land steht ein mehr oder weniger großer Raum zur Verfügung. Frankreich stellt sich hier dar als Hort des Widerstandes, der Streiks und der bewaffneten Aktion, bis schließlich im August 1944 „der Volksaufstand gesiegt hat“ nicht etwa die in der Normandie gelandeten alliierten Truppen. Die Heldenhaftigkeit Frankreichs, dessen Bürokratie und Polizei so glänzend mit den deutschen Besatzern kooperierte, ist nichts gegen die Rumäniens. Tatsächlich lieferte es der Hitlerkoalition das Erdöl, am 22.Juni 1941 überfielen 27 rumänische Divisionen an der Seite der deutschen die Sowjetunion, annektierten breite Landstriche, ermordeten die jüdische Bevölkerung der eroberten Städte, der rumänische „Staatsführer“ Marschall Antonescu gehörte zu den besonders gern gesehenen Gästen auf dem Obersalzberg.

Demgegenüber erfindet die Ausstellung das Einrücken „deutscher Besatzungstruppen“ im Oktober 1940. (Ungarn und Rumänien standen damals wegen ihrer gegenseitigen Minderheitenprobleme vor einem kleinen Separatkrieg und wurden durch ein paar deutsche „Berater“ beschwichtigt.) Und schließlich war es nicht die Rote Armee, die Rumänien eroberte, sondern ein ominöser „Sieg des bewaffneten antifaschistischen Volksaufstands“, der am 23.August 1944 die Freiheit brachte. Erst von diesem Zeitpunkt an gab es folgt man der Ausstellung - überhaupt rumänische Soldaten. Bis zum 9.Mai des darauffolgenden Jahres vollbrachten sie „wunderbare Heldentaten“.

Mit dabei ein Partisan namens Ceausescu. Sein Bild ist neuerdings auf Wunsch einer rumänischen Delegation überklebt. „Er soll auch keine wesentlichen Funktionen ausgeübt haben“, meint der Direktor der NMG und verweist im übrigen auf die nationale Autonomie.

Die Ausstellung folgt dem Prinzip „je mehr Kollaboration, desto mehr Widerstand“. Die Norweger mit ihrem Quisling an der Spitze sprengten Brücken, Italien präsentiert sich mit verschränkten muskulösen Arbeiterarmen, Maschinengewehrnestern und Sieg. Österreich - wie könnte es anders sein - war ein Land der Helden, Patrioten, ein Land des unbändigen Freiheitswillens gegen Hitlerdeutsche. Angeblich sind es nicht die braven Wiener und Wienerinnen gewesen, die ihre jüdischen Mitbürger johlend durch die Gassen jagten, sie mit der Zahnbürste das Pflaster schrubben ließen, sondern reichsdeutsche „Nazihorden“.

Das Staatswappen ist aus dem Saal entfernt

Schließlich landet der Besucher im „Anderen Deutschland“. Gemeint ist die DDR. Das Andere Deutschland besteht aus illegalen Druckereien, aus Ernst Thälmann, Heinrich Mann, Walter Ulbricht und Ernst Breitscheidt. Das Andere Deutschland ist die Hoffnung auf eine bessere Welt, so wie sie ein junger Kommunist kurz vor seiner Hinrichtung in die Zellenwand des Zuchthauses Brandenburg einkratzte: “...die Wolken werden zerrissen und die Sonne wird strahlen dann heißer und holder denn je.“

Realisiert hatte sich das alles im Aufbau und in der Existenz der DDR. Das Staatswappen ist aus diesem Saal entfernt. Ebenso die Bilchen vom blühenden Friedensstaat und seiner volksverbundenen Staatsführung. Zentral angeordnet „dem müssen wir uns fügen“ - wurde nur die Entfernung des Wappens...

Doch Antifaschismus ist nicht gleich Antifaschismus, auch nicht in dieser Ausstellung: In den von Holland, Luxemburg, Jugoslawien und Ungarn verantworteten Räumen stehen die Opfer im Mittelpunkt der Dokumentation. Unter der nicht mehr ganz aktuellen Parole Das Wohl der sozialistischen Gemeinschaft ist unser Wohl, ihr Glück ist unser Glück, erinnert Polen an die in Sachsenhausen 14 ermordeten Professoren der Jagiellonischen Universität, an das Warschauer Ghetto, an sechs Millionen Opfer. Die Geschichte des Widerstands - rasant an der Wahrheit vorbei auf den der Kommunisten reduziert - steht bescheiden am Rand.

Besonders auffallend der größte Raum dieser Ausstellung, der Raum der Sowjetunion. Mag sein, daß das ästhetische Konzept des sowjetischen Designers gescheitert ist. Aber der Inhalt ist eindeutig. Schwarzweiß sind die Leiden der sowjetischen Völker im Halboval aufgemalt: Brennende Dörfer, Tote, versklavte Menschen, Not und Elend - kein einziger Held, Moskau in den Stunden der ärgsten Bedrohung, als die Deutschen bereits auf halbem Weg zwischen dem heutigen internationalen Flughafen und dem Zentrum der Stadt standen. Davor auf gläsernen Tafeln durchsichtig einige wenige deutsche Dokumente im Originalformat: Der Kommissarbefehl, Verordnungen zur Ermordung der Zivilbevölkerung, Weisungen, ganze Städte „dem Erdboden gleich zu machen“. In der Ecke eine Plexiglasquader in dem nichts weiter steht als die Zahl 20.000.000.

Die Ausstellung, geschaffen noch in der Ära unmittelbar vor Gorbatschow, verträgt im geschichtlichen Zusammenhang der Schlacht von Stalingrad - im entstalinisierten Anderen Deutschland heißt sie nur noch „Schlacht an der Wolga“ sogar ein Bildchen des gefürchteten Diktators.

Erich Honecker müssen die Augen beim Anblick dieses Saals zornrot unterlaufen sein. Jedenfalls findet der Direktor der NMG noch heute: „Dieser Ausstellung fehlt jede inhaltliche Konzeption, eine zusammengewürfelte Darstellung. Wir waren nicht einverstanden. Die Russen waren nicht einmal bereit, falsches Deutsch zu korrigieren, sie verwiesen einfach auf die 'nicht notwendige Perfektion‘ und 'die künstlerische Freiheit‘.“

„Nazi-KZ nicht mit NKWD-Lager in einen Topf werfen“

Der NMG-Direktor, der Diplomhistoriker Johann Hirthammer, ist durchaus bereit zur Anpassung, bereit zum Umdenken: Nach einem „geistigen Zusammenbruch“ geht er nun „durch den Tunnel der Erkenntnis“ und von dort „auf einen schmalen Grad, den jeder für sich gehen muß“. Hirthammer stellt sich die Frage: „Wo wirst du jetzt Opportunist, wo sind es echte Einsichten?“

Zur Mischung aus Opportunismus und Einsicht gehört die neu geschriebene Geschichte des „Speziallagers Nr. 7“, das der NKWD in den Jahren 1945 bis 1950 in dem ehemaligen Nazi-KZ unterhielt. Größere und vor allem kleinere Nazis wurden hier eingesperrt, völlig unschuldige Menschen, die Denunziationen zum Opfer fielen, auch Kinder, Sozialdemokraten, Konservative, die sich der Politik der Besatzungsmacht widersetzten. Nach Augenzeugenberichten starben etwa 13.000 bis 20.000 Menschen. Die Gedenkstätte Sachsenhausen sucht Zeugenaussagen und Dokumente. Ein neugedrucktes Informationsblatt gibt dem Besucher die wichtigsten Hinweise, auch wenn es „noch vorläufigen Charakter“ hat. Es kommt allerdings darauf an, so sagt es Hirthammer, daß „das Nazi-KZ nicht mit dem Speziallager in einen Topf geworfen wird“.

Was soll aus Sachsenhausen werden? Die Jugendweihegruppen kommen nicht mehr, die Zahl der Besucher wird sich in diesem Jahr halbieren. Die 70 Angestellten der Gedenkstätte sind „weit mehr als in entsprechenden Einrichtungen der BRD“, der Etat ist nur für den laufenden Monat gesichert.

Hirthammer hat erst jetzt den Kontakt mit dem Bürgermeister von Oranienburg gesucht, mit den beiden Pfarrern, mit dem Rat des Kreises. Mit eher verdächtiger Routine spricht er von den Gefangenengruppen, die bisher kaum oder überhaupt nicht in den Ausstellungen und Dokumentenbroschüren erwähnt wurden: Sinti, Roma, „Asoziale“, Bibelforscher, Homosexuelle, Geistliche... Die Begriffe gehen ihm wie geschmiert von den Lippen. „Ja“, sagt er, „leider wurden die Bibelforscher auch in der DDR weiterverfolgt und sogar eingesperrt - als Kriegsdienstverweigerer und vor allem als amerikanische Agenten.“ Hirthammer sucht Kontakte im Westen. Er will mit dem Zentralrat der Sinti in Heidelberg in Verbindung treten. Daß der renommierte Reimar Gilsenbach 40 Kilometer weiter wohnt, grundlegend über die Verfolgung der „Zigeuner“ im Nationalsozialismus gearbeitet hat, weiß er nicht.

Die Gedenkstätte Sachsenhausen, bisher vor allem Wallfahrtsort der antifaschistischen Amtskirche, schwebt als Versatzstück der Geschichte durch den Berliner Raum. „Es muß eine generelle Lösung gefunden werden“, meint der Direktor. Aber warum so schnell? Warum soll die Ausstellung nicht erst einmal so bleiben, wie sie ist? Schrägheiten und Irrtümer sind schließlich auch geschichtliche Dokumente. Sie gehören zu den Nachwirkungen eines Verbrechens, das im Land der Mörder niemals „perfekt“ bewältigt werden kann. Mögen vorläufig Zusatzinformationen gedruckt werden. Die Sowjetunion wird in den nächsten Jahren neue Unterlagen über das Lager herausgeben, die Häftlingsgemeinschaften werden ihre politische Linie überdenken, und ehemalige Häftlinge werden sich zu Wort melden, die nie in die Linie des Antifaschismus paßten und daher schwiegen.

Sachsenhausen braucht Zeit. Und schließlich werden die Oranienburger in dem Lager ein Stück ihrer eigenen Geschichte finden. Dem Ort sollte weder durch quicke Westberliner Museumspädagogen noch durch Holocaust-Beamte aus dem bundesdeutschen Gedenkstättenmilieu geholfen werden. Mit „generellen Lösungen“ ist niemandem gedient. Eine solche Lösung ist bereits im ehemaligen „DDR-Raum“ der Ausstellung zur engeren Geschichte des KZs zu besichtigen: Statt der Farbfotos des gelungenen Aufbaus hängen hier Schwarzweißfotos irgendwelcher Lagerdetails - verwitterte Riegel, abgewinkelte Betonpfähle im Gegenlicht etc. Die Ästhetisierung des Entsetzlichen ist der einfachste, aber auch der schlechteste aller möglichen Auswege.