: „Führer schlagen nicht, sie lassen schlagen“
■ Ost-West-Seminar zum Thema Ausländerfeindlichkeit mußte nach Überfall Rechtsradikaler abgebrochen werden / Ausländische Jugendliche fuhren panikartig nach West-Berlin zurück / Volkspolizei hielt sich „vornehm“ zurück
Grünau/Berlin. Ein Erfahrungsaustausch sollte es werden zum Thema „Rechtsradikalismus und Ausländerfeindlichkeit in Ost- und West-Berlin“. Getroffen hatten sich letztes Wochenende auf Initiative des Neuköllner Jugendamtes Jugendliche aus beiden Teilen der Stadt mit unterschiedlicher Nationalität. Wenige Stunden nach Beginn wurde das Seminar in einer Grünauer Jugendherberge abgebrochen. Aus dem Erfahrungsaustausch war brutale Realität geworden.
Zehn TeilnehmerInnen, darunter deutsche, libanesische, kurdische und jugoslawische Jugendliche, und ihr Seminarleiter hatten sich am ersten Abend noch zu einem Spaziergang aufgemacht, als ihnen nach eigener Darstellung vom Balkon eines Hauses „Ausländer raus!“ zugerufen wurde. Die arabischen Mädchen konterten mit einem „Scheiß Deutsche“, worauf sich ein heftiger verbaler Schlagabtausch entwickelte. Kurz darauf seien mehrere Jugendliche aus dem Haus gestürzt und hätten begonnen, auf die männlichen Seminarteilnehmer einzuschlagen.
Bei dem Versuch zu fliehen wurde ein kurdischer Jugendlicher zu Boden geschlagen und durch einen Fußtritt auf den Hals verletzt. Er habe sich in eine Kneipe retten können, wo er zusammenbrach. Der Rest der Gruppe rettete sich zurück in die Herberge.
Der Versuch, umstehenden Deutschen den Vorfall zu schildern und um Schutz zu bitten, blieb nach Darstellung der Seminarteilnehmer fruchtlos. „Ich bin hier der Führer“, habe einer geantwortet, „Führer schlagen nicht, sie lassen schlagen.“
Weder durch die später anrückenden Volkspolizisten noch durch die Herbergsleitung fühlten sich die Seminarteilnehmer in irgendeiner Weise geschützt. Letztere sei erst nach mehrmaliger Aufforderung bereit gewesen, überhaupt die Polizei zu verständigen. Durch den lockeren Umgangston von Herbergspersonal und Polizei mit den jugendlichen Angreifern mißtrauisch geworden, habe der Seminarleiter schließlich Namen und Adressenlisten aus der Rezeption wieder an sich genommen und seine Gruppe umgehend wieder nach West-Berlin gebracht. Die beiden Ostberliner Teilnehmerinnen wurden von der Volkspolizei nach Hause gefahren. Auf die Frage eines der Mädchen, warum die Polizei nicht früher eingegriffen habe, habe die Antwort des Polizisten gelautet: „Das ist nicht unsere Aufgabe.“ Früher sei die Stasi dafür dagewesen, „jetzt gibt es niemanden“.
Wie der Neuköllner Jugendstadtrat Michael Wendt (AL) auf Anfrage mitteilte, ist der junger Kurde nach ambulanter Behandlung im Krankenhaus wieder entlassen worden. Wendt hat sich nun in einem offenen Brief an die zuständigen Behörden in Ost-Berlin gewandt, darunter der frischgebackene Polizeibeauftragte Ibrahim Böhme, die Ausländerbeauftragte des Magistrats, Anetta Kahane, und der Jugendstadtrat Hartmut Hempel. Die verantwortlichen Politiker müßten sich eindeutig zu den in der Stadt lebenden ausländischen Jugendlichen und ihren Rechten bekennen. Ob er angesichts der Erfahrungen in Grünau in naher Zukunft weitere Seminare in Ost-Berlin veranstalten will, ließ der AL-Politiker noch offen: „Zumindest nicht, ohne sich vorher genau über den Veranstaltungsort und das Umfeld zu informieren.“
Andrea Böhm
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