Die nationale Lage nimmt ständig zu

■ Eine Tagung über den „Weg zur gesamtdeutschen Verfassung“

in der Evangelischen Akademie Bad Boll

Von Dietmar Hochmuth

Kurzer Morgenspaziergang im Park der Evenangelischen Akademie Bad Boll nahe Stuttgart, die für einen DDRler etwas von der Gediegenheit und verbindlichen Eintracht atmet, wie sie in den Schulungsheimen der SED vorgeherrscht haben muß. Da rollt hinter mir, fast lautlos, ein gelber Daimler der Polizei aus dem Gebüsch, und ein uniformierter Mann fragt in kräftigem Süddeutsch: „Isch hier ätwa e‘ Veranschtaldung?“ Ich nicke erschrocken, denke seltsamerweise an Diestel („Wir werden deine Raf-Sucht belohnen!“ steht an einem Haus in Berlin geschrieben), da ergänzt er: „Mir sollet nämlich den Inneminischder hier abliefern...“ - „Tun Sie das“, sag ich und verzieh mich, da verteilen sich auch schon allerhand unauffällige Jungs in der Botanik, und circa eine Stunde später trifft der termingestreßte Wolfgang Schäuble selbst ein - er hatte an diesem Wochenende immerhin noch zwei Podeste (an Grenzübergängen) zu betreten...

Die nationale Lage nimmt ständig zu - unter diesem Börsenindex stand eine Tagung der Evangelischen Akademie Bad Boll, die dem denkwürdigen Halbjahressylvester zwischen 30.Juni und 1.Juli Politiker, Verfassungsrechtler und Journalisten versammelt hatte, um „Markierungen auf dem Weg zu einer gesamtdeutschen Verfassung“ zu ertasten. Die Rednerliste (de Maiziere, Däubler-Gmelin, Eppler, Modrow, Schmude, Stolpe) versprach interessante Debatten, hätte sich nicht kurz zuvor noch die Ost-CDU demonstrativ ausgeklinkt und damit diskret angedeutet, daß die rührigen Programmplaner des Symposions, Manfred Fischer und Martin Pfeifer, historisch vielleicht schon zu spät gekommen sind. So wurde es mehr ein Heimspiel der Schwaben (Däubler-Gmelin) und Badenser (eben Schäuble), eigentlich aber der SPD, und entsprechend herrschte das TV- und selbstgrechte „pluralistische Einvernehmen“. Politiker im Campinghemd (es waren 30 Grad in dem betonierten Mehrzweck-Seminarraum, der zugleich für Morgenfeiern genutzt wurde) und nicht so druckreif, leider auch nicht so vorbereitet, wie im Parlament. Die Hauptfrage der Tagung - soll nun die neue gesamtdeutsche Verfassung etwas grundsätzlich Neues werden oder eine kosmetische Gesichtsoperation der bisherigen bundesrepublikanischen? - hatte gewissermaßen durch die Absage der DDR-Regierungspartei („kein Thema mehr“) eine erste unwidersprechbare Antwort erfahren. Um so interessanter war daher, daß Innenminister Schäuble nicht nur kam, sondern - erstmalig, wie es so schön heißt - in Aussicht stellte, Verfassungsänderungen, die mit Zweidrittelmehrheit in einem gesamtdeutschen Parlament beschlossen werden, dann durch einen Volksentscheid absegnen zu lassen (oder eben nicht).

Der Vorbehalt gegen plebiszitäre Elemente geisterte wie ein traumatisches Gespenst durch die Debatte, man beschwor allerhand unheilvolle Schatten deutscher Vergangenheit herauf und landete irgendwann folgerichtig bei der Diskussion um den Modus der Fünf-Prozent-Sperrklausel für die kommenden gesamtdeutschen Wahlen. Unklar auch: Wählen zwei Länder das Parlament für ein gemeinsames drittes Land (das sich im Falle des DDR-Beitritts am Wahlabend erst post factum konstituiert) oder kommt der Artikel 23 noch vorher zur Anwendung? Wenn ja, mit welcher Beteiligung des Wählervolks? Einheitliche Klausel bei nicht einheitlichem Staatsgebiet?

So wurde schließlich in der Frage der Fünf-Prozent-Klausel auch das eigentliche Bad Boller Scheingefecht zwischen CDU und SPD ausgetragen, denn hier hat jeder sein verdecktes Kalkül. Die SPD will mit der hohen Schwelle (die in der DDR dann deutschlandweit 23 Prozent betrüge) alle in Was-soll's -Apathie verfallenen Linkskräfte für die Ja-Nein-Schlacht mit - wenigstens im Unterbewußtsein noch - exterritorialer Fremdkandidatur (Helmut oder Oskar, das kleinere Übel) sammeln, während die CDU, nach außen sehr geschickt, genau mit der demokratisch anmutenden Gegenposition operiert: Je niedriger die Klausel in der DDR real ist, desto mehr und unüberbrückbarer zerbröseln die Kräfte links von ihr, die dann auch der SPD nichts nutzen. Wenigstens diese Lektion aus ewig deutscher Geschichte haben die christdemokratischen Wahlkampfstrategen sehr gut gelernt, ja sie können gar für ihren Sieg getrost Plakate der „heldenhaften Bürgerbewegungen in der DDR, denen Deutschland, Europa und die ganze Welt die friedliche Revolution verdankt“, kleben lassen (auf die sich jetzt schon eine Kaffeefirma beruft: „Grenzenlos günstige Preise - die Revolution vom Herbst geht weiter...“). So bewegt sich die DDR vom Einparteiensyndrom mit tradierter 98,95-Prozent-Klausel) in den polarisierenden Zweiparteiendualismus mit den berühmten „Zünglein an der Waage“.

Und da stimmte so mancher Zwischenton den durchaus empfindlichen Zuschauer aus der DDR schon hellhörig, etwa: „Es darf überhaupt keine Zweifel mehr geben“ (Schäuble). Oder: „Verfassungsbruch? Ja, wenn's halt gar nicht anders geht - es geht doch um die deutsche Einheit...“ (Däubler -Gmelin) - das höchste Gut, fast ein Wesen, das dem einen oder anderen Redner die Augen glänzend machte. Wie auch das bundesdeutsche Dominanzbestreben (Vogel habe sich mit Lafontaine am Telefon geeinigt, er übernimmt erstmal die gesamtdeutsche SPD, und für Lothar de Maiziere sei bei „weiterhin guter“ Führung der Sessel eines 1.CDU-Vizes reserviert) etwa die Motivation zur Beteiligung an einer Briefwahl - wie von einem pazifischen Atoll aus - aufkommen läßt, wenn zudem Ost-SPD-Fraktionschef Schröder auf die Frage, wie man denn 800 Seiten Gesetzestext pro Tag studiert, abwinkt und meint, nicht nötig, es seien doch „bewährte Gesetze“, und dabei schon wieder den spezifischen DDR-Reizwert eines Wortes wie „bewährt“ überhört. Nun ist Richard Schröder bestimmte ein nachweisbar belesener Mann aber ein bißchen zuviel Luther für die real existierende Problemlage in seiner Heimat (aus deren Erblast er als Theologe auch nur „fein raus“ scheint), zu wenig Calvin und pragmatisches „Beharren auf einzelnen Formulierungen“. Ich frage mich, worum kann es bei Verfassungsdingen gehen, wenn nicht um rechtsbindende Formulierungen - doch nicht um den stummen Konsens einer faktischen Selbstausschaltung?

Wohltuend weit über das Gerangel von Tagespolitik hinaus wiesen dagegen Erhard Epplers Überlegungen zu den Chancen der Ausgestaltung deutscher Einheit im Kontext der europäischen Integration und die von Intimkenntnis geprägten Beobachtungen Jürgen Schmudes zu Einheit und Identität der Deutschen in Ost und West. Die Einladung von Hans Modrow in diesen handverlesenen Club der Debattanten war schon im Vorfeld der Programmplanung ein Streitpunkt, sie trug sicherlich auch zur Absage der DDR-Regierungspartei bei (ohne Vergangenheit - daher mit Berührungsängsten?), deren Mitglieder, wie in einem Brief an Kulturminister Schirmer jüngst zu lesen war, ebenfalls 40 Jahre lang nur gelitten haben...

Auch Modrow sprach zum Thema Einheit und Identität der Deutschen - und kam trotz redlichen Mühens von alter Realitätsferne (auch in der Alternative „Banane oder Kindergartenplatz“) und neuer Verklärung nicht los („in der DDR gab es keine sozialen Schranken beim Lernen, Wohnen, Heiraten“ - wer's glaubt, wird selig). Die alten Grenzen sind noch nicht überwunden, neue werden schon errichtet das machte im Nachhinein einiges zu seiner Regierungszeit klarer. Modrow erzählte auch, daß er jetzt, nach 32 Jahren selbstauferlegter Kontaktsperre (!), seinen West-Bruder zum ersten Mal wieder gesehen habe... Kommt dieser kasuistische Dienst an einer institutionalisierten Idee nicht auf tragische Weise dem Gelübde eines Mönches gleich? Jetzt sei eben alles anders, man hat sich besucht, auch die Kinder knüpfen „erstaunlich leicht“ Kontakte, „schließlich sind wir ja alle Deutsche und immer gewesen!“ meinte Modrow am Ende. Damit eine Partei ihre ideologischen Planspiele treiben kann, stellt sie Regeln auf, die gleich für alle gelten sollten. Hätte man deren Tauglichkeit nicht erst durch Tierversuche überpüfen können?

Weniger aktuelle Verdauungsprobleme mit seinem Deutschtum hatte der Europa suchende Gerd Poppe vom Bündnis 90. Aber auch er demonstrierte Lähmungssymptome der gegenwärtigen politischen Kraterlandschaft DDR, zwischen Totalabbruch und Grundstücksvermittlung: das zu Freiwilligkeit stilisierte Unvermögen der Linken zum Populismus - allein schon in der Fähigkeit, sich über Gegenfragen und Skepsis hinaus deutlich zu machen, ja einmal verbindlich zu erklären, bis hin zur Geringschätzung der neuen Volkskammer als „Hort parlamentarischer Diktatur von Mehrheiten“. Tragische Einigelung und geduckte Zirkelmentalität. So warf diese Tagung, angefangen von dem zaghaften Vortrupp des Innenministers im Gebüsch, bis hin zum telegenen Schattenboxen wie im Bonner Wasserwerk, so manch interessantes Schlaglicht auf die aktuelle Tendenz der deutschen Geschichte, um nicht - summiert man alle Optionen und Verkrustungen - zu sagen: Misere.