„Das Opfer ist nur ein Beweismittel“

■ Psychologe Michael Bauermann vom BKA über eine Studie zum Umgang mit Opfern von Verbrechen

INTERVIEW

taz: Sie haben am Mittwoch im Bundeskriminalamt (BKA) eine Studie vorgestellt, die sich mit der Behandlung von Opfern von Straftaten beschäftigt. Was genau haben Sie untersucht und was haben Sie herausgefunden?

Michael Bauermann: Die Grundfrage war eine ganz einfache, nämlich die nach den Bedürfnissen der Opfer von Gewaltverbrechen. In der Bundesrepublik gibt es zwar Opferhilfeeinrichtungen, doch bislang hat niemand die Opfer selbst gefragt, was sie wollen. Eine Ausnahme bilden hier die Frauenhäuser und andere Frauenprojekte, die genau das vorexerzieren, was wir generell bei der Opferbehandlung und

-betreuung erreichen wollen: das Eingehen auf die Bedürfnisse der körperlich und seelisch Geschädigten. Generell aber sahen und sehen wir die Gefahr, daß die Helferbedürfnisse bei den Helfenden im Vordergrund stehen und nicht die der Opfer.

Wir haben nach der Anzeigenaufnahme Opfer aus allen Bereichen der Kriminalität befragt, vor allem im Bereich der Gewaltkriminalität. Und es steht fest, daß Opfer von Straftaten, insbesondere im Sexualdeliktsbereich, durch die Strafverfolgungsorgane oft schlecht behandelt werden. Die Opfer haben sich vielfach darüber beklagt, daß sie durch den Verfahrensablauf zusätzlich geschädigt werden. Es gab sogar Vergewaltigungsopfer, die aussagten, daß der hauptsächliche Schaden durch das Verhalten der Polizeibeamten entstanden sei. Das Verhalten der Polizeibeamten hat sich allerdings im Vergleich mit einer früheren Studie - verbessert. Auf einer Skala vom Wert „1“ (sehr gut bis hilfreich) bis zum Wert „5“ (unangenehm bis schädlich), konnten die Opfer eine Markierung vornehmen. Wir kamen diesmal auf einen Wert von 2,9 Punkten. Vor 15 Jahren gab es einen Wert 3,6 Punkten.

Liegt das vielleicht daran, daß heute mehr Polizistinnen in den Revieren arbeiten und Anzeigen von Vergewaltigungsopfern aufnehmen?

Es liegt sicher einmal daran, daß mehr Polizistinnen in den Polizeidienst hineingekommen sind. Dadurch hat sich das Klima in den Revieren positiv verändert.

Es liegt aber auch daran, daß mit der jüngeren Generation eine etwas andere Einstellung zu Frauen in die Polizei hineingetragen wird. Darüber hinaus gibt es heute in fast allen Bundesländern Fortbildungsveranstaltungen für Polizisten, in denen Psychologen die Beamten für den Umgang mit Opfern vor allem im Sexualdeliktsbereich schulen. Es gibt natürlich auch bei der Polizei nach wie vor Probleme, was Vorurteile gegenüber Frauen anbelangt. Aber wohl nicht mehr sehr viel häufiger, als in anderen gesellschaftlichen Bereichen. Aber auch das ist schon schlimm genug.

Werden die Opfer anderer Straftaten auf den Revieren denn mit ähnlichen Verhaltensmustern konfrontiert?

Grundsätzlich kommen die Opfer geschädigt an Leib und/oder Seele zur Polizei, in einem Ausnahmezustand. Und auf den Revieren werden sie dann mit dem polizeilichen Alltag konfrontiert, mit Routinearbeit. Da kommt es dann natürlich zu Irritationen und zu Ohnmachtsgefühlen.

Besonders schwer haben es bei der Polizei etwa Prostituierte oder - wie schon gesagt - Opfer von Vergewaltigungen. Und diese Ohnmachtsgefühle dauern im Verfahrensverlauf noch an oder steigern sich noch, etwa bei der Konfrontation mit dem Täter im Prozeß.

Was muß sich ändern?

Das Problem sind die Strukturen bei der Polizei und auch bei den Gerichten. Das Opfer ist nur ein Beweismittel - das Verfahren täterausgerichtet. Das hat sich durch das Nebenklagerecht für Vergewaltigungsopfer etwas verbessert. Der Opferschutz im Verfahren muß unbedingt weiter vorangetrieben werden. Die Polizei muß noch besser geschult werden, denn die Polizei hat im Kontakt mit dem Opfer eine Servicefunktion.

Die Polizei muß begreifen, daß sie die Opfer betreuen muß, und sie nicht noch zusätzlich schädigen darf. Und auch bei den Gerichten müssen die als Zeugen auftretenden Opfer fürsorglich behandelt werden. Und letztendlich müssen die Institutionen, die schon heute in der Opferbetreuung gute Arbeit leisten, mehr unterstützt werden, etwa die Frauenhäuser oder „Wildwasser“ (für mißbrauchte Mädchen, d.Red.) oder die Notrufeinrichtungen für vergewaltigte Frauen.

Interview: Klaus-Peter Klingelschmitt