4.000t Tomaten dürfen kein Ketchup werden

■ Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften im Berliner Umland stehen vor der Flächenstillegung / Industrie will keine Tomaten mehr aufkaufen / Bald Kurzarbeit auf Glindower Feldern / Die alten Großgrundbesitzer warten schon

Glindow. Auf die zierlichen Obstbäume, die sich in langen Reihen neben dem Feldweg hinziehen, ist Sigmar Wilhelm sichtlich stolz. „Hier wachsen Pfirsiche“, erklärt er. „Die Griechen können das zwar besser, aber immerhin haben wir das nördlichste geschlossene Pfirsichanbaugebiet Europas.“ Wilhelm (42) ist Leiter der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft (LPG) Obst und Gemüse in Glindow, das im Havelland südwestlich von Berlin liegt.

Nach kurzer Autofahrt verdüstert sich allerdings die Miene des LPG-Chefs merklich. Die kleine Pfirsichbaumplantage hat inzwischen endlosen Tomatenfeldern Platz gemacht. Viele der Früchte Marke „Edelrot“ sind bereits reif und rot.

„Die Tomaten sind jetzt unser größtes Problem“, sagt Wilhelm, dem 500 Mitarbeiter und 1.600 Hektar LPG -Anbaufläche unterstehen. „Wir wissen überhaupt nicht, wohin damit.“ In den Jahren vor der Wende ging die Jahresernte von 4.000 Tonnen Tomaten problemlos an die Industrie. Die zahlte einen Kilopreis von 1,80 Mark und verarbeitete die Früchte zu Ketchup. Jetzt bieten die Fabriken nur noch fünf Pfennig für das Kilo. In der nächsten Woche soll mit der Ernte begonnen werden, doch die Ersatzabnehmer für die Ketchup -Macher sind noch nicht in Sicht. „Wir telefonieren durch das ganze Land, wo wir hinverkaufen können“, beschreibt Wilhelm seine derzeitige Tätigkeit. Mehrmals sagt er, daß er nicht gedacht hätte, „daß es so hart kommt. „Der alten LPG in Glindow ging es gut. Zwar hat sie sich für teure Investitionen, wie zum Beispiel für Bewässerungsanlagen, hoch verschuldet, aber sie konnte sich auch eine Kinderkrippe, eine Tischlerei oder eine eigene Jugendherberge mit 400 Betten leisten (in der Saison logierten hier früher die Erntehelfer). Jetzt ist das Großhandelskombinat, das die Ware zu Festpreisen übernahm, einfach von der Bildfläche verschwunden. Statt der 2,95 Mark für einen großen Blumenkohl, der dann dank der Milliardensubvention für 2,30 Mark in der Kaufhalle zu haben war, gibt es heute, wenn überhaupt, nur noch schlappe 65 Pfennig. Von den 2.000 Tonnen Blumenkohl der Glindower LPG wurde dieses Jahr nur knapp die Hälfte abgenommen - der Rest wurde mit der Scheibenegge auf dem Feld „umgedreht“. Vielen der Tomatenpflanzen wird es wahrscheinlich ähnlich ergehen. DDR-Behörden und Banken stellen jetzt ein Unterstützungs -Arsenal von „Anpassungshilfen“, Flächenstillegungsprämien und Kurzarbeitergeld zur Verfügung. Das wird die meisten der rund 4.000 DDR-LPG'en nicht vor der Pleite retten. Auf den Glindower Feldern wird ab 25. Juli kurzgearbeitet werden. Je nachdem, wie sich die Genossen der LPG Obst und Gemüse in den nächsten Wochen entscheiden, wird die LPG in zwei oder mehr Nachfolgegesellschaften nach westdeutschem Genossenschaftsrecht aufgesplittet werden. 60 der Genossen haben bereits Ansprüche auf Landflächen, die sie in die LPG miteingebracht haben, angemeldet. LPG-Chef Wilhelm, der seit zehn Jahren die Glindower Plantagen leitet, hofft nun, daß wenigstens das Land aus der Bodenreform in der Regie der Kern-LPG bleibt. Dieses Land war in den Jahren 1945-1950 unter der Devise „Junkerland in Bauernhand“ von den Großgrundbesitzern enteignet worden. Aber sicher ist sich da Wilhelm auch nicht: „Der ehemalige Gutsbesitzer hat sich schon gemeldet“, sagt er mit nachdenklichem Blick auf die Tomatenpflanzen und den staubigen Sandboden.

Zwei Dörfer weiter, in Busendorf, existiert die LPG „Freiheit“ seit 1955. Untypisch für DDR-Verhältnisse ist der 600 Hektar-Betrieb „abgerundet“: es gibt Tierhaltung, Pflanzenproduktion, Gemüseanbau und eine Erdbeerpflanzenzucht. LPG-Leiter Horst Plank sitzt in seinem Büro, in dem die Fliegen surren. Ein Kuhhorn ziert seinen Schreibtisch. Auch Plank klagt über schlechten Absatz. Für seine Milch hat Plank schon seit Juni kein Geld mehr gesehen, da die Molkereigenossenschaft Brandenburg ihre Butter nicht verkaufen kann. Nach Plank soll sich in Brandenburg bereits ein Butterberg von 500 Tonnen auftürmen. 300 Busendorfer Mastferkel, die normalerweise nach vier Monaten mit einem Gewicht von 35 Kilo an einen speziellen Mastbetrieb weitergehen, stehen auch noch im Stall. „Die werden wir notfalls selbst mästen und im Herbst schlachten“, umreißt Plank die Busendorfer Vieh-„Strecke“ für die nächste Zeit. Auch diese LPG muß schrumpfen, will sich aber wenn möglich nicht aufspalten. „Einzelbauer will hier keiner werden“, beteuert Plank, „die LPG ist hier immer noch das Dorf.“ Einfach mit seinen Produkten auf den Westberliner Markt zu fahren, wie das der Obst- und Gemüsebauer Wilhelm inzwischen vorhat, kann für Plank nicht infragekommen. Dafür sind die Bodensorgen in Busendorf weniger drückend. Einen Gutsbesitzer gab es früher nicht im Dorf, und die vor Jahrzehnten enteigneten Großbauern sind bisher noch nicht in dem Runddorf mit den Rosenbeeten an der Dorfstraße vorstellig geworden.

Christian Böhmer