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„Dieser Krieg ist mir als Problem zu speziell“

■ Vortrag des DDR-Philosophen Wolfgang Harich in der FU über „Nicolai Hartmann und der NS-Staat“

Harich sieht älter und müder aus als auf dem einzigen Foto, das man neulich von ihm gesehen hat. Das lange, wellige Haar, der gut gekämmte Bart passen jedoch zu der scheinbaren Unversehrtheit seines Weltbildes. Er ist geschwätzig, trotzig, selbstgefällig: Die Bezeichnung „senil“ tut ihm kaum Unrecht. Aber der verletzende Stolz des genialen Studenten, der Eigensinn des radikalen enfant terrible hat sich durch sein bewegtes leben bis heute hinübergerettet. Wolfgang F. Haug, der letzte FU-Marxist, sitzt neben ihm wie ein unbeliebter Neffe, von seiner politisch-pädagogischen Mission zur Freundlichkeit gegenüber Ungeheuern verdammt.

Am Anfang des langen Vortrags von Harich steht die bewegte Erinnerung an die frühen fünfziger Jahre in Berlin. Die von Margherita von Brentano angeregten Gesamtberliner philosophischen treffen in einer Neuköllner Gasthaushinterstube mögen, so Harich, Modell für das sein, was uns erwartet: hoffentlich kein Zusammenwachsen und auch kein Zusammenwuchern, wohl aber ein Zusammenraufen.

Harich und „Fräulein von Brentano“ kannten sich aus der Zeit, von der er heute erzählen will: die Jahre 1941-1942, als beide im Berliner Seminar Nicolai Hartmanns saßen. Seine Erinnerungen an jene Jahre stellt Harich in den Dienst einer unerläßlichen Wahrheitssuche über die Haltung des angesehenen Professors gegenüber dem NS-Staat. Harich nennt sich selbst denn auch, in Anspielung auf die bekannte dokumentarische Anklageschrift gegen die NS-Verstrickung Martin Heideggers, den Victor Farias von Nicolai Hartmann. Gemeint ist damit aber nur die Sorgfalt seiner Forschungen und eben nicht deren Ergebnisse: Hartmanns Akten, teilt er mit, seien „blütenrein“, nennenswerte nationalsozialistische Elemente habe er in dessen Denken und Handeln nicht feststellen können. Jede politische und sonstige Aktualität sei Hartmann immer fremd gewesen - so sei er in seinem Leben nie wählen gegangen. In seinem Seminar hätten Nazis und rassisch Verfolgte friedlich nebenander gesessen. Harich weiß freilich um die verhängnisvolle Seite der politischen Abstinenz seines ersten philosophischen Lehrers: Als Harich ihn 1942 auf die ihm bekanntgewordenen Kriegsgreuel im Osten ansprach, wies Hartmann auf seine Beamtenpflicht hin, die Regierung nicht zu kritisieren, räumte dann ein, die Sache berühre sein Wertgefühl, fügte jedoch hinzu: Aber wissen Sie, dieser Krieg ist mir als Problem zu speziell.“ Harich solle ihn lieber fragen, ob der Lauf der Welt überhaupt einen Sinn habe. Ergebnis dieser Unterredung, berichtet Harich, sei die Einsicht gewesen: „Dieser Mann, an dessen Füssen ich lag, ist ein Idiot.“

Bei dieser emotiven Abwendung ist Harich jedoch nicht geblieben. Über Hartmann als Philosoph zieht er eine positive Bilanz. Nach 1929 sei bei ihm eine vorsichtige Annäherung an Marx zu verzeichnen, die ohne die Machtergreifung der Nationalsozialisten vermutlich weitergegangen wäre. In seiner Auseinandersetzung mit Hegel kommt Hartmann zu einer positiven Bewertung der Marxschen Dialektik, in Das Problem des geistigen Seins (Anfang 1933 erschienen) war der Marxismus das „große Beispiel“ der Möglichkeiten einer führenden Rolle der Wissenschaft im sozialen Gebiet, auch der Hinweis auf das im „nahen Osten“ zur Zeit stattfindende Experiment fehlte nicht.

Mit ausführlichen Berichten über Hartmanns umstrittene Berufung nach Berlin 1929 sowie über dessen zurückgezogene Existenz - den Hochgebildeten sah man nie in Konzerten oder in Theatern, er ging lieber ins Kino um die Ecke und schaute sich die vergötterte Greta Garbo an - vervollständigt Harich das Bild eines unbelasteten, weltabgewandten Philosophen. Und ganz am Rande erwähnt der Lukacs-Schüler Harich auch Lukacs‘ Bewunderung für Hartmann.

Die Brisanz der anekdotenreichen Ausführungen verstanden die Außenstehenden jedoch erst, als zu Beginn der sich anschließenden „Podiumsdiskussion“ eine Philosophiedozentin von der Humbold-Universität (ihr war später auch folgende bemerkenswerte Erscheinung geistiger DDR-Befindlichkeit inmitten westlicher Seminarmarotten zu verdanken: Man im Publikum: „Ich möchte nun an Herrn Harich eine provokante Frage stellen, ich entschuldige mich deshalb schon im voraus...„; Sie: „Für provokante Fragen muß man sich nicht entschuldigen, man muß stolz darauf sein!„; Mann: „Ja.“) Harich die Frage stellte, wie er zu Haugs Hartmann-Aufsatz stehe - sie zeigte dem Publikum das Buch Deutsche Philosophen 1933, ein Ergebnis des Haugschen Arbeitsprojektes „Ideologische Mächte im deutschen Faschismus“, in dem der FU-Professor Hartmann zu jenen „respektablen“ Philosophen zählt, die auch ohne direkte Parteinahme den Nazis objektiv geholfen, ja „den NS (...) mit ihren schulspezifischen Mitteln mitgebildet haben“. Sie selbst teile Haugs These weitgehend, könne aber jetzt Harich nicht widersprechen und bitte deshalb um Aufklärung. Mit einem kaum verborgenen Schmunzeln sagte Harich, er habe in der Tat Haugs Aufsatz nicht angreifen wollen. Bedauerlicherweise „wimmele“ dieser Text aber nur so von „Fehleinschätzungen“. Dann ging es los: Falsch Haugs Behauptung, Hartmann sein ein reaktionärer Baltendeutscher, unsauber seine Unterstellung, Hartmanns Polemik gegen den Neukantianismus habe einen antisemitischen Hintergrund, wenig aussagekräftig sein Hinweis auf den „Führer„-Begriff in einer Rede Hartmanns vom Oktober 1933. Haugs Grundthese, wertphilosophische Rangordnung reproduziere Herrschaftsverhältnisse, wies Harich als unbewiesen und als nur suggestiv schroff zurück. Hartmanns Vorstellungen von Hierarchie orientierten sich vielmehr an den Unterschieden von Höherem und Niedrigerem, wie sie sich dem Naturwissenschaftler aufdrängen. Und mit der Einsicht, das Höhere, Geistige sei auf Niedriges, Untergeordnetes angewiesen, befinde sich Hartmann auf dem Feld eines nicht mechanistischen Materialismus. Haug erwiderte scharf: Harichs und Hartmanns Sympathie für eine wissenschaftliche Führung des Sozialen habe mit Marx nichts, dafür viel mit Stalin zu tun. Man könne Hartmann insofern sogar als einen Vordenker der DDR ansehen... Daraufhin erzählte Harich, mit immer böser und zugleich immer seliger werdender Miene eine schöne Geschichte. Während des Krieges habe er in einer konspirativen Berliner Wohnung den Kommunisten Alex Vogel kennengelernt. Vogel habe ihn gefragt, ob er denn wirklich Philosophie treibe. Und ob! erwiderte Harich. Der Genosse rezitierte dann Marx‘ elfte Feuerbachthese. Harich gefiel sie nicht: „Die Welt verändern! Welche Welt wollt Ihr denn verändern?“ Er zeigte auf den Sternenhimmel. „Diese Welt etwa? Andromeda wollte Ihr verändern?“ Auch Vogels Präzisierung, es ginge doch um unsere, um die menschliche und gesellschaftliche Welt, ließ Harich nicht gelten. Diesmal zeigte er auf die zerstörten Häuser. Diese sei nun eine veränderte Welt! Die Royal Air Force habe diese Welt fürwahr verändert! Der Anekdote erbauliches Finale: Anfang 1945 drückt derselbe Genosse dem jungen Philosophen Lenins Materialismus und Empiriocriticismus in die Hand. Erst diese Lektüre, bei der Harich denselben erkenntnistheoretischen Ansatz wiederfand, den er bei Hartmann kennengelernt hatte, sei für seine Entscheidung, der kommunistischen Partei beizutreten, ausschlaggebend gewesen. Ja ja, Das Kapital, schön und gut, darüber habe Haug Interessantes geschrieben. Er ziehe jedoch Dialektik der Natur und Antidühring vor.

Dann kam die wirkliche Pointe des Abends. Wegen Haugs Behauptung, auch subjektiv antinazistische Philosophen hätten zur „ideologischen Konsolidierung des NS-Staates“ beigetragen, warf ihm Harich - ausgerechnet Harich „kulturelles Sektierertum“ vor. Zur Erinnerung: 1987 definierte Harich die bloße Veröffentlichung von Texten Friedrich Nietzsches in der DDR als ein „Verbrechen“ und rief dagegen dieselbe sozialistische Staatsgewalt auf, die ihn 1957 als Dissident zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt hatte. Und Harich bestätigte: Ja, gegenüber Nietzsche, diesem „Ur-Nazi“, dürfe es keine Toleranz geben - die könne und müsse man im Gegenteil gegenüber auch üblen Nazis üben, wenn sie „kulturell Wertvolles“ geschaffen hätten. Und da kam sie, die Liste der bildungsbürgerlich Trotz-Alledem -Unverzichtbaren: Knut Hamsun (freilich nicht der von Nietzsche verdorbene...), Hans Pfitzner, Gustav Gründgens, Furtwängler...

Wolfgang Harich, hatte Haug in der kurzen, herzlichen Präsentation gesagt, hat uns allen als erster die jedes marxistische Denkschema herausfordernde Zentralität der Umweltfrage gelehrt. Und gerade die am Ende überdeutlich gewordene Fremdheit macht jene anfangs heraufbeschworene Nähe zu einem sonderbaren Problem. Niemand war offenbar daran interessiert, Harich nach dem Zusammenhang seiner Hartmannschen Prägung mit seiner ökologisch -naturphilosophischen Erweiterung des marxistischen Horizonts zu fragen. Oder Haug danach, ob im Fluchtpunkt der Gattungsbedrohung sich eventuell alle Fäden eines dann allerdings wirklich sehr „pluralen“ Marxismus treffen würden: Wissenschaftsgläubigkeit und Rückzug ins Utopische, realistische Erkenntnistheorie und 'kritische‘ Reinigung Marx‘ - schließlich eine Hochachtung vor den Gipfeln des Geistes, die das menschliche und politische Scheitern der 'Großen‘ in Kauf nimmt, und ein verbissener, unbeugsamer, oft blinder Reduktionismus.

„Ich bin jetzt leider wirklich erschöpft.“ Unmittelt geht eine schrill vorgetragene Erwiderung ins Lamento des alten Mannes über. Was hat er denn zu verlieren? Der verstörte Seminarleiter bekommt auch nicht das letzte Wort, Wolfgang Harich sorgt ganz am Schluß gar für ein schon wieder heiter -dialektisches Finale dieses betrübenden „Endspiels“. Victor Farias‘ Heidegger-Demaskierung sei unbedingt zuzustimmen ähnliche Aussagen über die ausschließliche Philosophie -Fähigkeit der deutschen Sprache wie bei Heidegger würde man allerdings bei Adorno - und auch bei Lukacs finden. „Zu welchen Ergebnissen wäre Farias gekommen, hätte er Adorno und Lukacs gelesen?

Ein erleichterter, hämischer Applaus war ihm sicher.

Federico Gerratana

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