: Stumme Stimmen
■ Das neue Buch des New Yorker Neurologen David Wright,
diesmal über Gehörlose
Von Oliver Sacks
Der Ausdruck „taub“ ist vage und so allgemein, daß er der Einschätzung der höchst unterschiedlichen Grade der Gehörlosigkeit im Weg steht - Grade, die von qualitativer, ja sogar „existentieller“ Bedeutung sind. Da gibt es die „Schwerhörigen“, deren Zahl in den USA etwa fünfzehn Millionen beträgt und die mit Hilfe von Hörgeräten in der Lage sind, einiges zu verstehen, sofern ihre Gesprächspartner ein gewisses Maß an Geduld und Rücksicht aufbringen. Viele von uns haben Eltern oder Großeltern, die in diese Kategorie gehören - vor hundert Jahren hätten sie Hörrohre benutzt; heute haben sie Hörgeräte.
Dann gibt es die „schwer Hörgeschädigten“, deren „praktische Taubheit“ häufig auf eine Verletzung oder Krankheit in der Kindheit oder Jugend zurückzuführen ist; auch sie aber können, wie die Schwerhörigen, Sprache verstehen, besonders wenn sie mit den neuen computerisierten und „personalisierten“ Hörgeräten ausgerüstet sind, die jetzt auf den Markt kommen. Und schließlich gibt es Menschen mit „absoluter Taubheit“ - manchmal nennt man sie „stocktaub“ -, die nicht darauf hoffen können, Gesprochenes zu verstehen, ganz gleich, welche technischen Fortschritte gemacht werden. Diese absolut gehörlosen Menschen können sich nicht normal unterhalten - sie müssen entweder (wie David Wright) von den Lippen lesen oder sich der Gebärdensprache bedienen oder beides tun.
Nicht nur der Grad der Gehörlosigkeit ist von Bedeutung, sondern auch - und zwar in ganz entscheidendem Maße - das Alter oder Entwicklungsstadium, in dem sie einsetzt. Etwa ein Tausendstel der Kinder auf der Welt ist von Geburt an gehörlos. David Wright verlor sein Gehör erst, als er bereits sprechen gelernt hatte, und aus diesem Grund kann er sich nicht vorstellen, wie das Leben für die ist, die gehörlos geboren worden sind oder ihr Gehör in einem Alter verloren haben, in dem sie noch nicht sprechen konnten: „Wenn es schon mein Schicksal sein sollte, zu ertauben, so verlor ich mein Hörvermögen doch zu einem überaus günstigen Zeitpunkt. Mit sieben Jahren hat ein Kind die Grundlagen der Sprache erfaßt, und so war es auch bei mir. Daß ich auf natürliche Weise sprechen gelernt hatte, war ein weiterer Vorteil: Aussprache, Syntax, Formen und Redewendungen hatte ich mittels des Hörens gelernt. Ich verfügte über ein Basisvokabular, das sich durch Lesen leicht erweitern ließ. All dies währe mir verwehrt geblieben, wenn ich von Geburt an taub gewesen oder mein Gehör zu einem früheren Zeitpunkt verloren hätte.“
Wright berichtet von „geisterhaften Stimmen“, die er hört, wenn jemand mit ihm spricht, vorausgesetzt, er kann die Lippen- und Gesichtsbewegungen des anderen sehen, und schildert, wie er das Rauschen des Windes „hören“ konnte, wenn er sah, wie der Wind Bäume oder Zweige schüttelte. In einer bewegenden Beschreibung der ersten Situation dieser Art, zu der es unmittelbar nach dem Einsetzen der Gehörlosigkeit kam, heißt es: „Meine Taubheit war dadurch schwieriger zu bemerken, daß meine Augen von Anfang an unbewußt begonnen hatten, Bewegung in Geräusche zu übersetzen. Meine Mutter war fast den ganzen Tag bei mir, und ich verstand alles, was sie sagte. Warum auch nicht? Ich hatte ihr, ohne es zu wissen, mein Leben lang alles von den Lippen abgelesen. Wenn sie sprach, schien ich ihre Worte hören zu können. Das war eine Täuschung, die auch dann noch bestehenblieb, als ich wußte, daß es sich um eine Täuschung handelte. Mein Vater, mein Vetter, alle, die ich kannte, behielten ihre geisterhaften Stimmen. Daß sie eingebildet, die Projektionen von Gewohnheit und Gedächtnis waren, wurde mir erst bewußt, als ich aus dem Krankenhaus entlassen worden war. Eines Tages unterhielt ich mich mit meinem Vetter, und einer plötzlichen Eingebung folgend hielt er sich beim Sprechen die Hand vor den Mund. Stille! Ich begriff ein für allemal: Konnte ich nichts sehen, konnte ich auch nichts hören.“
Obwohl Wright weiß, daß die Geräusche, die er „hört“, reine „Illusionen“ sind - „Projektionen von Gewohnheit und Gedächtnis“ -, sind sie während der Jahrzehnte seiner Gehörlosigkeit überaus eindringlich geblieben. Für ihn und alle anderen, die ihr Gehör verloren, nachdem es schon weit ausgebildet war, ist die Welt möglicherweise voller Geräusche, auch wenn diese „Phantasmen“ sind.
Ganz anders verhält es sich - und diese Situation ist für einen Menschen mit normal entwickeltem Gehör (und selbst für postverbal Ertaubte wie David Wright) im Grunde unvorstellbar -, wenn die Hörfähigkeit von Geburt an fehlt oder im Säuglingsalter vor dem Erwerb der Sprache, abhandengekommen ist. Diese präverbal Gehörlosen gehören zu einer qualitativ grundlegend anderen Kategorie. Für sie, die nie gehört haben, die über keinerlei auditive Erinnerungen, Vorstellungen oder Assoziationen verfügen, kann es nie auch nur die Einbildung, die Imagination, eines Geräusches geben. Sie leben in einer Welt vollständiger, von nichts durchbrochener Geräuschlosigkeit und Stille. (Dies ist die allgemein verbreitete Ansicht, die nicht ganz stimmt. Taubgeborene erleben weder eine völlige „Stille“, noch klagen sie darüber (ebensowenig wie Blinde „Dunkelheit“ erleben und beklagen). Das sind nur unsere Projektionen, unsere Metaphern für ihren Zustand.)
Man kann darüber streiten, ob Gehörlosigkeit, wenn sie später im Leben eingesetzt hat, der Blindheit „vorzuziehen“ ist; gehörlos zur Welt zu kommen ist jedoch unendlich viel schlimmer als blind geboren zu werden - jedenfalls was die Entwicklungsmöglichkeiten betrifft. Präverbal Gehörlose, die ihre Eltern nie hören konnten, laufen nämlich Gefahr, in ihrer Sprachbeherrschung schwer retardiert, wenn nicht dauerhaft geschädigt zu bleiben, sofern nicht frühe und effektive Gegenmaßnahmen getroffen werden. Und mangelnde Sprachbeherrschung ist für ein menschliches Wesen eine der furchtbarsten Katastrophen, denn nur mittels der Sprache können wir uns das Menschsein und die menschliche Kultur wirklich aneignen, frei mit unseren Mitmenschen kommunizieren und Informationen aufnehmen und weitergeben. Sind wir dazu nicht in der Lage, so sind wir - ungeachtet unserer Wünsche, Ziele und angeborenen Fähigkeiten - auf bizarre Weise verkrüppelt und abgeschnitten; ja, wir können unsere intellektuellen Fähigkeiten möglicherweise in so geringem Maße umsetzen, daß wir den Eindruck geistig Behinderter machen.
Das ist der Grund, warum von Geburt an Gehörlose oder „Taubstumme“ jahrtausendelang für dumm, für tumb, gehalten, von rückständigen Gesetzen für nicht rechts- und bildungsfähig erklärt wurden (sie hatten keinen Anspruch auf Erbschaft und Erziehung, durften keine Ehe schließen, keine ihrer Begabung angemessene, befriedigende Arbeit ausüben); grundlegende Menschenrechte waren ihnen verwehrt. Diese Situation besserte sich erste gegen Mitte des 18.Jahrhunderts, als sich (vielleicht im Zuge der sich ausbreitenden Aufklärung, vielleicht als spezifischer Ausdruck allgemeiner Empathie, des Zeitgeistes jener Jahrzehnte) die öffentliche Wahrnehmung und der Status der Gehörlosen grundlegend änderte. (...)
Zurück zu David Wright: Mit acht Jahren, als deutlich wurde, daß seine Gehörlosigkeit unheilbar war und sich seine Sprachbeherrschung ohne entsprechende Maßnahmen zurückentwickeln würde, schickten die Eltern ihn auf eine besondere Schule in England, eine jener rigorosen „Sprechschulen“, die mit kompromißlosem, aber fehlgeleitetem Engagement gehörlose Kinder in erster Linie dazu bringen wollten, wie andere Kinder zu sprechen, und die seit ihrer Einführung den präverbal Gehörlosen so viel Schaden zugefügt haben. Bei seiner ersten Begegnung mit Taubgeborenen war der junge David Wright verblüfft:
„Manchmal hatte ich zusammen mit Vanessa Unterricht. Sie war das erste taube Kind, mit dem ich zusammenkam... Aber selbst einem Achtjährigen wie mir erschien ihr Allgemeinwissen seltsam begrenzt. Ich erinnere mich noch an eine Erdkundestunde, die wir zusammen hatten. Miss Neville fragte: „Wer ist der König von England?“
Vanessa wußte es nicht; in ihrer Not versuchte sie, in dem Erdkundebuch zu lesen, daß bei dem von uns vorbereiteten Kapitel über Großbritannien aufgeschlagen war und seitlich auf dem Tisch lag. „König... König...“ fing Vanessa an.
„Weiter“, befahl Miss Neville.
„Ich weiß es“, sagte ich.
„Du bist still.“
„Vereinigtes Königreich“, sagte Vanessa.
Ich lachte.
„Das ist sehr dumm“, sagte Miss Neville. „Wie kann ein König 'Vereinigtes Königreich‘ heißen?“
„König Vereinigtes Königreich“, probierte die arme, hochrote Vanessa.
„Sag du es ihr, wenn du es weißt, David.“
„König George V.“, sagte ich stolz.
„Das ist gemein, das stand nicht im Buch.“
Vanessa hatte natürlich ganz recht, in dem Kapitel über die Geographie Großbritanniens stand nichts über das politische System des Landes. Sie war keineswegs dumm; aber ihr noch immer zu kleiner Wortschatz, den sie sich als Taubgeborene langsam und mühsam erworben hatte, erlaubte es ihr nicht, zum Zeitvertreib und zum Vergnügen zu lesen. Darum gab es für sie fast keine
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