Bittere Minuten für Claudio Chiappucci

■ Der Italiener im Gelben Trikot der Tour de France verlor am französischen Nationalfeiertag fast fünf Minuten / Großangriff von Greg LeMond und Erik Breukink, doch Pedro Delgado hielt Anschluß

Von Matti Lieske

Berlin (taz) - Einen Tag hatten die von den Alpenstrapazen ausgelaugten Teilnehmer der Tour de France Zeit, ihre Muskeln wieder in Schwung zu bringen, mentale Blessuren zu kurieren und ihre diversen Wehwehchen - Blasen, Furunkel, Entzündungen, Sturzverletzungen - zu pflegen, dann hieß es am Samstag wieder aufs Fahrrad klettern und weiterstrampeln. Wer gedacht hätte, die Radprofis würden es nun bis zu den Pyrenäen, wo ihnen morgen mit der Etappe nach Luz Ardiden die nächste mörderische Prüfung droht, ruhig angehen lassen, sah sich jedoch getäuscht. Im letzten Jahr hatte das gutgelaunte Peloton am Nationalfeiertag noch mit Jakobinermützen auf dem Kopf den 200.Jahrestag der Französischen Revolution gefeiert, diesmal war für derlei Späßchen keine Zeit.

Vor allem Greg LeMond schein der Meinung zu sein, daß dieser 14. Juli, an dem die Strecke von hunderttausenden enthusiastischer Zuschauern gesäumt war, der geeignete Moment wäre, zum Angriff auf das Gelbe Trikot des Italieners Claudio Chiappucci zu blasen. Ganz anders als im Vorjahr, wo er sich beständig an die Hinterräder seiner Konkurrenten gehängt und die Sekunden, die er zum Tour-Sieg brauchte, bei den Zeitfahren geholt hatte, präsentierte sich der Titelverteidiger auf dem 149 Kilometer langen Weg von Villard de Lans nach Saint-Etienne als wahrer „Patron“. Er attackierte giftig und schaffte es schließlich 57 Kilomter vor dem Ziel, mit einer Gruppe, in der sich auch der Dritte des Gesamtklassements, der Niederländer Erik Breukink, und der Spanier Miguel Indurain befanden, dem Feld zu enteilen.

Kräftig aufs

Tempo gedrückt

„Das war improvisiert“, erzählte LeMond später, „als ich sah, daß Delgado nicht mitging, habe ich auf das Tempo gedrückt.“ Mehr als zwei Minuten betrug zeitweise der Vorsprung der Ausreißer, eine bedrohliche Situation nicht nur für Chiappucci und den Zweitplazierten Pensec, sondern auch für Delgado, den Tour-Sieger von 1988, der es sich kaum erlauben konnte, Breukink und LeMond einen solchen Abstand zu gestatten.

Dem Spanier entging dieser bedenkliche Umstand keineswegs, und so begab er sich beim Aufstieg zum Col de la Croix de Chaubouret (1.201 Meter), mit seinem Landsmann Marino Lejarreta und dem Italiener Gianni Bugno im Schlepptau, auf die Verfolgung. Da jedoch weder Lejarreta noch Bugno, der nach eigener Aussage nicht die große Form seines Giro-Sieges besitzt und die Tour angeblich fährt, „um dabei zu sein, nicht um zu gewinnen“, großes Interesse an der Führungsarbeit zeigten und Delgado praktisch alles allein machen ließen, wäre dessen Unterfangen möglicherweise zum Scheitern verurteilt gewesen - gäbe es da nicht Miguel Indurain, den besten Wasserträger dieser Tour de France.

Schon auf den 21 Serpentinen hinauf nach L'Alpe d'Huez hatte Indurain seinem Kapitän Delgado aufopferungsvolle Dienste geleistet und, obwohl er am Schluß weit zurückfiel, den späteren Sieger jener Etappe, Gianni Bugno, von allen Fahrern am meisten beeindruckt. Auch diesmal war Verlaß auf den Edeldomestiken. Als er mitbekam, daß Delgado die Verfolgung aufgenommen hatte, ließ er sich aus der Spitzengruppe zurückfallen, wartete auf seinen Chef, lieferte ihm jede Menge Windschatten und führte ihn bis auf 20 Sekunden an LeMond und Breukink heran.

Eine Differenz, die der Mann aus Colorado, der sich so rasant wie der Felsen des Sisyphos nach Saint-Etienne hinabstürzte, mit einer halsbrecherischen Abfahrt schließlich wieder auf 30 Sekunden gegenüber Delgado ausbauen konnte, in etwa die Zeit, die er beim Zeitfahren in Villard de Lans verloren hatte. Aus dem Sprint um den Etappensieg hielt sich Greg LeMond dann vorsichtig raus. Es gewann der Spanier Eduardo Chozas knapp vor Breukink.

Claudio Chiappucci hatte keinen Miguel Indurain. Nicht ein Fahrer seiner Mannschaft vermochte es, dem hohen Tempo dieser Etappe - durchschnittlich 44,655 Kilometer pro Stunde - zu folgen, und der Mann im Gelben Trikot durchlebte bittere Minuten, als ihn beim letzten Anstieg eine Krise packte, sein Tritt immer schwerer wurde und ihn die Gruppe um den Belgier Claude Criquielion, in der er gefahren war, achtlos zurückließ wie eine leere Wasserflasche. Einsam quälte er sich voran und hatte schließlich Glück, daß sich der sowjetische Fahrer Dmitrij Konischew in einem jener merkwürdigen Akte mannschaftsübergreifender Solidarität, wie sie manchmal bei der Tour vorkommen, seiner erbarmte.

Barmherzige Tour-Samariter

Ein ähnlicher Samariterdienst war 1985 Bernard Hinault zuteil geworden, der in jenem Jahr gemeinsam mit Greg LeMond im Team des adidas-Aufkäufers Bernard Tapie fuhr. Als Hinault, der einen Nasenbeinbruch erlitten hatte, in den Pyrenäen in Schwierigkeiten geriet, schlug LeMond jegliche Mannschaftsdisziplin in den Wind und machte sich davon, um selber Tour-Sieger zu werden. Damals war es Pedro Delgado, der sich des armen Hinault annahm, ihm das Gelbe Trikot und damit, nachdem Tapie dem ehrgeizigen LeMond mächtig den Kopf gewaschen hatte, seinen fünften Triumph bei der Tour de France rettete.

Auch Chiappucci durfte in Saint-Etienne vorläufig das begehrte „Maillot Jaune“ behalten, doch ob er es bis Paris tragen wird, ist mehr als fraglich geworden. 4:53 Minuten betrug sein Rückstand im Ziel, der einst so stolze Vorsprung von mehr als zehn Minuten, den er auf der ersten Etappe herausgefahren hatte, ist auf knappe zwei zusammengeschmolzen. Auf seine Mannschaft kann der kleine Italiener offensichtlich nicht zählen, und selbst, wenn er selbst sich wieder regeneriert, dürfte es ihm schwerfallen, in den Pyrenäen auf sich allein gestellt den Angriffen von Breukink, Delgado, Bugno und LeMond zu widerstehen.

Fatal war diese 13. Etappe für Ronan Pensec, der vom zweiten auf den vierten Rang zurückfiel, und für Uwe Ampler, der zuvor schon gleichermaßen unter der Mannschaftsdisziplin, die ihn zum Wasserträger degradierte, und einer Entzündung im Knie gelitten hatte. Er stürzte bei Kilometer 61 und gab auf.

13.Etappe: 1. Eduardo Chozas (Spanien); 2. Eric Breukink (Niederlande); 3. Andy Hampsten (USA); 4. Roberto Conti (Italien); 5. Greg LeMond (USA) alle 3:20:12 Std.; 6. Marino Lejarreta (Spanien); 7. Pedro Delgado (Spanien); 8. Gianni Bugno (Italien) 30 Sek. zurück; 9. Miguel Indurain (Spanien) 36Sek.

Gesamtklassement: 1. Claudio Chiappucci (Italien) 52:49:13 Std.; Erik Breukink (Niederlande) 2:02 Min.; 3. Greg LeMond (USA) 2:34; 4. Ronan Pensec (Frankreich) 4:11; 5. Petro Delgado (Spanien) 4:39; 6. Gianni Bugno (Italien) 6:25; 7. Marino Lejarreta (Spanien) 8:23; 8. Raul Alcala (Mexiko) 9:00; 9. Andrew Hampsten (USA) 9:05; 10. Claude Criquielion (Belgien) 9:39;... 73. Mario Kummer 55:23 Min.; 110. Andreas Kappes 1:06:21 Std.; 123. Jan Schur 1:12:22