Staaten und Volksbewegungen: der Baltische Rat 1934 und 1990

■ Estland, Lettland und Litauen versuchen, die „Baltische Entente“ wiederzubeleben / Doch die Bedingungen sind ungünstig, die Gemeinsamkeiten begrenzt

Von Ojars J.Rozitis

Zu nicht genannter Vorzeit soll es gewesen sein, als „die estnischen Brüder// Zwist säten in Lettland// deren Feste belagerten,// mit scharfen Pfeilen schossen“. Vor der drohenden Niederlage soll die Letten ihr Weiser bewahrt haben, der zum Lied anhob: „Die Kokle erklang, der Alte sang, // den Esten glitten die Keulen aus den Händen“, kurzum, „die Macht des Liedes rettet das Volk“.

Dem lettischen Lyriker Auseklis (1850 bis 1879) ging es in dem Gedicht Beverinas dziedonis um die Bildung eines nationalen Mythos - es ist 1873 entstanden, im Kontext des nationalen Erwachens in der westlichen Peripherie des damaligen Zarenreichs, das schließlich 1918 zur Gründung der drei unabhängigen baltischen Republiken Estland, Lettland und Litauen führte. Bis in die Gegenwart klingt die Schlußzeile von der Rettung durch das Macht des Liedes: Eine andere Bezeichnung für die gegenwärtigen politischen Umwälzungen im Baltikum lautet - geprägt für Estland „singende Revolution“.

Zu Denken gibt jedoch das auch Bild, das Auseklis vom Verhältnis der Ur-Esten und -Letten zeichnete: Eigentlich sind sie Brüdervölker, dennoch suchen sie einander - zumindest manchmal - in räuberischer und kriegerischer Absicht heim. Der Mythos von der gleichsam naturgegebenen baltischen Eintracht - er war offenbar immer schon fragwürdig.

In der Tat meint der Begriff „Baltikum“ vor allem eine geographische, zum Teil auch eine politisch-historische, nicht jedoch eine ethnische, konfessionelle Einheit: Die Esten (vorwiegend Protestanten) sind ein finn-ugrisches Volk, während die Litauer und Letten - zum Hauptteil Katholiken die einen, Protestanten die anderen - zum baltischen Zweig der indo-europäischen Völkergruppe gehören. Von der Sprache her können sich Litauer und Letten untereinander einigermaßen verständigen, mit den Esten aber nicht.

Die Gemeinsamkeiten in der jüngeren Geschichte dieser Völker reichen von der Gründung der unabhängigen Ostseerepubliken bis zum Verlust ihrer Souveränität infolge des Hitler-Stalin-Pakts von 1939, beziehungsweise der gewaltsamen Angliederung an die UdSSR im Sommer 1940.

Zugleich bestehen markante Unterschiede. Im Estland der Nachkriegsjahre etwa wirkte die Nähe zu Finnland gegen die Zentralisierungsbestrebungen Moskaus: Sendungen des finnischen Rundfunks können dort nicht nur empfangen, sondern auch sprachlich verstanden werden; Das klassische Informations- und Ideologiemonopol sowjetischen Zuschnitts konnte sich hier erst gar nicht entwickeln. In Litauen hingegen ist es der tiefverwurzelte Katholizismus gewesen, an den sich ein stiller, aber entschlossener Widerstand anlagerte. Zwischen Estland und Litauen gleichsam eingekeilt und zugleich von Außeneinflüssen strenger abgeschirmt, damit letztlich auch hilfloser gegen die Folgen des erzwungenen Anschlusses an die UdSSR: Lettland. Nicht umsonst erklärte der lettische Lyriker Janis Peters auf der Baltischen Versammlung vom 13. und 14. Mai 1989 in Tallinn: „Als Gott das Baltikum schuf, siedelte er Lettland in dessen Mitte an. Bildhaft ausgedrückt kann man sagen, daß Lettland dadurch, daß es sich in der Mitte befindet, das Herz des Baltikums ist. Sollte Lettland versagen, könnte das Baltikum einen Infarkt erleiden.“

Das Bild bezog sich auf die unterschiedlichen Ausgangspositionen in den drei Ostseerepubliken, die jeweils ein anderes Marschtempo auf dem Weg in die Souveränität bedingen. Nehmen wir das Beispiel Estland: Nach 1945 ist hier der Anteil der Nicht-Esten an der Gesamtbevölkerung auf zirka 36 Prozent angewachsen; andererseits waren die Esten stets überproportional in der KP vertreten. Die örtliche Parteigliederung war daher „national“ eingestellt, beziehungsweise resistenter gegen die Machtansprüche der Zentralgewalt: Ihre Abgrenzung zu der im Herbst 1988 gegründeten Volksfront fiel nicht besonders deutlich aus. Als der jüngst gewählte Oberste Sowjet in Tallinn am 30.März mit einer Zweidrittelmehrheit die Verfassung der UdSSR für Estland außer Kraft setzte, hatten sowohl die Vertreter der Volksfront wie auch der Großteil der kommunistischen Abgeordneten für diesen Schritt gestimmt.

Ganz anders in Lettland, wo der Anteil der Nicht-Letten an der Gesamtbevölkerung 48 Prozent beträgt und die Letten lediglich ein Drittel der KP-Mitglieder stellen. Spätestens im Herbst letzten Jahres, als sich die Volksfront endgültig auf die Wiederherstellung der vollen Souveränität Lettlands festlegte, mußte unter diesen Bedingungen der Graben zwischen der Partei und der demokratisch-nationalen Reformbewegung unüberwindbar werden. Die KP konnte nicht verhindern, daß der im Frühjahr neugewählte Oberste Sowjet in Riga am 4.Mai 1990 mit einer knappen, erst im letzten Durchgang zustande gekommenen Zweidrittelmehrheit aus Volksfront und unabhängigen Kommunisten die „Deklaration über die Erneuerung der Unabhängigkeit der Republik Lettland“ verabschiedete.

Schließlich Litauen, das sowohl den kleinsten Anteil an Nicht-Litauern (20 Prozent) als auch den niedrigsten Organisationsgrad der KP aufweist. Die Volksfront „Sajudis“ konnte unter diesen Umständen bei den letzten Wahlen zum Obersten Sowjet der Republik gleich im ersten Anlauf und im Alleingang die verfassungsändernde Zweidrittelmehrheit erlangen, die am 11. März 1990 die Wiederherstellung der staatlichen Souveränität Litauens beschloß. Den litauischen Kommunisten nützte es nichts, daß sie sich zuvor noch mehrheitlich für die Unabhängigkeit ausgesprochen und den organisatorischen Bruch mit der KPdSU vollzogen hatten. Während in Lettland mit A. Gorbunovs und in Estland mit A. Rüütel mittlerweile Reformkommunisten an der Spitze des Staates stehen, ließ das Parlament in Vilnius KP-Chef Brazauskas nicht die geringste Chance und wählte ohne Umschweife den „Sajudis„-Vorsitzenden V. Landsbergis zum Präsidenten.

Zu dem von Janis Peters seinerzeit befürchteten Infarkt des Baltikums ist es also nicht gekommen. Mit den zitierten Beschlüssen der Parlamente in den Ostseerepubliken hat sich nunmehr von Tallinn über Riga bis Vilnius eine politische Front gebildet.

Wegbereiter für diese Entwicklung sind zweifelsohne die Volksfronten Estlands, Lettlands und Litauens gewesen, die zum erstenmal am 8.November 1988 zu einem koordinierten Vorgehen gedrängt wurden. Anlaß waren die beabsichtigten Änderungen in der Verfassung der UdSSR, die eine Einschränkung der ohnehin mager ausgestatteten Souveränitätsrechte der einzelnen Teilrepubliken befürchten ließen. In einer gemeinsamen Kampagne trugen die Volksfronten mehr als drei Millionen Unterschriften gegen die geplanten Verfassungsänderungen zusammen. Das Unternehmen blieb ohne Erfolg, aber diese Erfahrung dürfte es gewesen sein, die die baltischen Reformbewegungen dazu brachte, ihre Anstrengungen noch stärker miteinander zu verzahnen.

Den Auftakt dazu bildete die Baltische Versammlung, zu der die Vorstände aller drei Volksfronten am 13. und 14.Mai 1989 in Tallinn zusammenkamen. Sie trafen die formelle Übereinkunft, gemeinsam für das Selbstbestimmungsrecht sowohl der baltischen als auch der übrigen sowjetischen Völker einzutreten und einen integrierten baltischen Wirtschaftsraum anzustreben. Als Koordinationsgremium wurde der „Baltische Rat“ eingerichtet, zu dem sich die Führungsspitzen der Volksfronten in der Regel allmonatlich treffen.

Die von der Baltischen Versammlung im Mai 1989 verabschiedeten Dokumente waren unverkennbar ein Angebot zum Dialog mit Moskau. So ist dort die Rede davon, daß die demokratischen Massenbewegungen im Baltikum „Garant für die Fortführung der von M. Gorbatschow eingeleiteten Perestroika“ seien. Ferner wird auf die Einsicht Moskaus gesetzt, daß die Annullierung des Hitler-Stalin-Pakts die „Erneuerung der Eigenstaatlichkeit Estlands, Lettlands und Litauens“ zur logischen Konsequenz habe.

Die Geschichte des Baltischen Rats der Volksfronten ist seither vor allem durch die beharrliche Weigerung der Zentralmacht geprägt, sich dieser Einsicht zu stellen. Zu einem offenen Bruch entwickelte sich der Konflikt allerdings erst mit der Erklärung des ZK der KPdSU vom 26.August 1989; darin wurde die Menschenkette zwischen Tallinn, Riga und Vilnius, die die drei Reformbewegungen zum Gedenken an den 50. Jahrestag des Hitler-Stalin-Pakts am 23.August organisiert hatten, zum Anlaß genommen, die „wahrlich nationalistische Hysterie“ und die „extremistischen, separatistischen, antisozialistischen und antisowjetischen Bestrebungen“ in Estland, Lettland und Litauen zu brandmarken.

Als Reaktion auf die zurückhaltenden Stellungnahmen der baltischen KPs zu dieser Erklärung hieß es in einer Verlautbarung des Baltischen Rats vom 14.Oktober 1989: „Diese Parteien sind nicht bereit oder in der Lage, den Willen ihrer Völker zu vertreten und zu verteidigen. (...) In der gegenwärtigen politischen Situation sind die Volksfronten Estlands und Lettlands und die litauische Bewegung Sajudis jene reale Kraft, die in der Lage ist, die Krise in den baltischen Republiken zu bewältigen.“ Und einen Monat später, am 11.November, kam der Baltische Rat zu dem Schluß, daß sich auch das Engagement der Volksfronten im Obersten Sowjet der UdSSR als Sackgasse für ihr Anliegen erwiesen habe.

Die aus diesen und ähnlichen Erfahrungen gewonnene Erkenntnis, daß nämlich der herrschende Staats- und Parteiapparat kaum bereit ist, das Selbstbestimmungsrecht der baltischen Völker zu anderen Bedingungen als den seinen anzuerkennen, fand Ausdruck in der Feststellung des Baltischen Rates auf seiner Sitzung am 14.Januar 1990: „Die wichtigste Aufgabe, die es 1990 zu bewältigen gilt, ist die Koordinierung der Bemühungen der Volksbewegungen in Estland, Lettland und Litauen mit dem Ziel, die staatliche Unabhängigkeit der Baltischen Länder zu erneuern.“ Ein wie auch immer gearteter sowjetischer Bezugsrahmen - er kam für die Reformbewegungen nicht mehr in Frage.

Wie zu erwarten, solidarisierten sich die Volksfronten mit der kurz darauf proklamierten litauischen Souveränitätserklärung und verwiesen darauf, daß die letzten Wahlen zu den Obersten Sowjets in Estland, Lettland und Litauen eine überzeugende Mehrheit für die Unabhängigkeit dieser Staaten erbracht hätten. In der Tat: Mit diesem Votum war der Weg freigeworden für eine parlamentarisch legitimierte politische Kooperation der baltischen Länder. Dementsprechend beschloß der Baltische Rat am 14.April 1990, die zweite Baltische Versammlung als Treffen nicht nur der Volksfronten sondern auch der auf die Unabhängigkeit verpflichteten Parlamentarier für den 6.Juni nach Riga einzuberufen.

Den ersten Schritt in Richtung auf eine politische Zusammenarbeit der baltischen Staaten vollzogen die Regierungschefs von Estland, Lettland und Litauen schon auf einem Treffen am 12.April 1990 in Vilnius - sie unterzeichneten ein Abkommen über die Bildung eines marktwirtschaftlich orientierten baltischen Wirtschaftsraums ohne Zollgrenzen.

Bereits einen Monat später beschlossen die Staatspräsidenten Rüütel, Gorbunovs und Landsbergis in Tallinn, die Baltische Entente vom 12.September 1934 wieder zu beleben. Damals waren die unabhängigen Republiken Estland, Lettland und Litauen übereingekommen, enger miteinander zusammenzuarbeiten und vor allem ihre Außenpolitik zu koordinieren. Allerdings bewirkte diese Vereinbarung kaum mehr als regelmäßige Konsultationen der Außenminister. Gegenseitiger militärischer Beistand - wie ihn Lettland und Estland schon am 1.November 1923 vereinbart hatten - war darin erst gar nicht vorgesehen.

Diese Baltische Entente war ein Bündnis des kleinsten gemeinsamen Nenners. Tatsächlich hatten die Vertreter Lettlands, Estlands, Litauens Polens und Finnlands bereits am 31. August 1920 im lettischen Seebad Bulduri einen Vertrag zur Bildung einer Union der baltischen Staaten ausgehandelt, der jedoch nie ratifiziert wurde: Im Oktober desselben Jahres annektierte Polen Vilnius, die historische Hauptstadt Litauens. Der Konflikt zwischen diesen beiden Staaten blockierte alle weiteren Verhandlungen (so wurden noch im Gründungsvertrag der Baltischen Entente von 1934 die „spezifischen Probleme Litauens“ ausdrücklich aus dem Kreis der gemeinsam interessierenden Fragen ausgeklammert). Finnland hingegen entschied sich für die Annäherung an die skandinavischen Länder.

Der Blick zurück in die Frühgeschichte der Baltischen Entente zeigt, daß dieser Zusammenschluß weniger Ausdruck einer gemeinsamen politischen Identität der baltischen Republiken war als vielmehr ein Bündnis, dem ein Gefühl mangelnder Sicherheit im Spannungsfeld zwischen der Sowjetunion und Hitlerdeutschland zugrunde lag, ein äußerer Zwang mithin.

Welche Chancen birgt unter diesem Aspekt die aktuelle Wiederbelebung des Vertrags vom 12.September 1934? Einerseits ist nicht zu übersehen, daß die Ausgangslage heute vielfach schwieriger ist. 1934 ging es der Entente darum, die Souveränität der Teilnehmerstaaten gemeinsam gegen eine Bedrohung von außen zu verteidigen; 1990 liegt ihr Ziel darin, eben diese Souveränität durch eine Herauslösung aus der Sowjetunion wiederherzustellen. Andererseits ist es aber der hinhaltende, mitunter verbissene Widerstand Moskaus gegen eine derartige Entwicklung, der eine Neuauflage der Baltischen Entente nicht nur herbeigeführt hat, sondern diese darüber hinaus zu gemeinsamen Anstrengungen und zum Erfolg geradezu verdammt.

Es bleibt aber die Frage, wie haltbar ein derartiges Bündnis ist, sollte einmal der Zwang entfallen, der es zusammengeführt hat - konkret: wenn die angeblich selbstverständliche Tugend einer gemeinsamen baltischen Identität ihre Geburt aus der Not nicht mehr verleugnen muß. Es zeugt wohl kaum von einem gleichsam angeborenen Zusammengehörigkeitsgefühl der Esten, Letten und Litauer, daß sie 1934, als die äußeren Bedingungen zwar bedrohlich, aber entschieden günstiger waren als heute, und als die baltischen Staaten noch in der Lage waren, souveräne Entscheidungen zu treffen, nur ein „konsultative“, eine zahnlose Allianz zustande brachten - und selbst dies nur mit Vorbehalten und widerstrebend.

Auch das Konzept des angestrebten baltischen Wirtschaftsraums ist vor allem als Absage an die bisherige sowjetische Planwirtschaft und weniger als Antwort auf die drängenden ökonomischen Probleme des Baltikums zu sehen.

Zu den Folgen zentral gelenkter Planwirtschaft gehört die industrielle Spezialisierung von Regionen und Republiken: zwar könnte Lettland, beispielsweise, an Litauen Kompressoren für Kühlschränke im Gegenzug für Fernsehröhren liefern, doch wäre damit noch nicht sichergestellt, daß in Riga ohne weiteres TV-Geräte und in Vilnius Gefriertruhen gebaut werden könnten - weil die benötigten Gehäuse bislang, sagen wir einmal, in Swerdlowsk hergestellt wurden oder weil die Endmontage in Ufa erfolgte - im Falle einer Loslösung aus der UdSSR also im sowjetischen Ausland.

Auch haben die baltischen Republiken in ihrer traditionellen Domäne, der Landwirtschaft, eine weitgehend identische Palette an Erzeugnissen anzubieten; ein gegenseitiger Handel mit Agrarprodukten ergäbe da nur wenig Sinn. Nebenbei sei noch auf das Energieproblem verwiesen: Eine unabhängige, flächendeckende Versorgung des Baltikums mit Strom wäre allein durch die massive Verheizung des estnischen Ölschiefers möglich - beim gegebenen Stand der Technik eine ökologische Katastrophe für den Ostseeraum.

Mithin dürfte die Umstellung auf eine marktwirtschaftliche Ordnung in allen drei Republiken mit gewaltigen Schwierigkeiten verbunden sein, die einerseits nicht unbedingt im Rahmen eines gemeinsamen Marktes zu lösen sind und auch nicht die ideale Voraussetzung für eine grenzübergreifende Solidarität darstellen. Ob unter solchen Bedingungen die Baltische Entente in der heutigen Verbundenheit über jenen Tag X hinaus Bestand haben wird, an dem diese Staaten ihre eigenen vier Wände im europäischen Haus beziehen - diese Frage ist zumindest nicht abwegig. Aber soviel dürfte sicher sein: Jene Keulen, mit denen der Dichter Auseklis die alten Letten und Esten aufeinander eindreschen ließ, werden wohl nicht mehr hervorgeholt werden.