Der Nussbaum-Steinberg-Prozess

 ■ Wie der 1988 geführte Prozeß um ein zu Tode geprügeltes

Kind von den US-amerikanischen Medien beeinflußt wurde

Von George Blecher

Die Namen und die Gesichter waren der Öffentlichkeit nach kurzer Zeit vertraut geworden: Joel Steinberg, der sadistische Rechtsanwalt; Hedda Nussbaum, seine geprügelte, masochistische Geliebte; Lisa, ihre illegal adoptierte sechsjährige Tochter, die von einem der beiden, vielleicht auch von beiden gemeinsam, auf brutale Weise zu Tode geprügelt worden war. Als die Gerichtsverhandlung gegen Lisas „Vater“ im Oktober 1988 schließlich im Vormittagsprogramm des Fernsehens gezeigt wurde, wuchs sich die Sache zu einem wahren Medienzirkus aus, in dessen Verlauf die Videoaufnahmen von Heddas Narben den Zuschauern immer wieder vorgespielt wurden wie ein Schlager der Top Twenty, der Verteidiger zum Fernsehstar und der Angeklagte für kurze Zeit zum Ankläger wurde - und das Problem der Verantwortung der Gesellschaft insgesamt immer mehr aus dem Blickfeld verschwand.

Angefangen hatte es an einem schönen Herbstmorgen im Jahre 1987. Zwei gutsituierte jüdische Eheleute aus New York brachten ihr Kind in ein Krankenhaus in Greenwich Village und gaben an, die Kleine hätte sich beim Essen an irgend etwas verschluckt und atme nicht mehr richtig. Die Ärzte erkannten bald, daß das Kind schwer mißhandelt worden war und daß die angebliche Mutter, eine ehemalige Kinderbuchlektorin, ein wandelnder Leichnam war: Ihr Gesicht war von Schlägen angeschwollen, ihre Nase war an mehreren Stellen gebrochen, ihre Beine waren übersät mit gangränösen Wunden, die innerhalb weniger Wochen ihren Tod zur Folge gehabt hätten. Als Lisa ein paar Tage später starb, wurden sowohl Frau Nussbaum als auch Herr Steinberg, ein Rechtsanwalt, der sich hauptsächlich mit der Vertretung von Kokainschmugglern befaßte, wegen Mordes angeklagt.

Ein Jahr lang, das Jahr vor dem Prozeßtermin, war der Fall Steinberg das Stadtgespräch. Fälle schwerer Mißhandlungen von Kindern und Ehefrauen sind in den New Yorker Gerichten nichts ungewöhnliches, wenn auch nicht typisch für die wohlhabende, gebildete jüdische Mittelschicht, der Steinberg und Nussbaum angehörten. Wie war es möglich, daß selbst heute - wo die Emanzipationsbewegung der Frauen fast schon Geschichte ist - Hedda Nussbaum es zulassen konnte, daß sie selbst und ihr Kind zum Opfer von Gewalt wurden? Und warum hatten nicht Nachbarn, Lehrer oder Freunde die Polizei alarmiert? Hatte der Schutz der persönlichen Freiheit, die die Amerikaner so sehr schätzen, in diesem Fall zu gut funktioniert und geholfen, Menschen zu schützen, die als Eltern völlig ungeeignet waren?

Als der Prozeß gegen Joel Steinberg begann (die Staatsanwaltschaft hatte die Anklage gegen Frau Nussbaum aufgrund ihres körperlichen und geistigen Zustands zum Zeitpunkt der Tat fallen lassen), kam plötzlich ein weiteres, neues Element ins Spiel: das Fernsehen. In Übereinstimmung mit den Bestimmungen eines neuen Gesetzes wurde der größte Teil der Gerichtsverhandlung live übertragen - das erste Experiment dieser Art in der Geschichte New Yorks. Presse- und Fernsehreporter brachten ihre Kameras in das Gerichtsgebäude und interviewten Anwälte, Zeugen und in einem Falle sogar den Angeklagten selbst. Immer neue Versionen dessen, was in jener Nacht im Jahre 1987 geschehen war, überschwemmten die Medien. Nach kurzer Zeit war es gelungen, die Tatsachen hinter einer Unzahl von Meinungen verschwinden zu lassen, die teilweise ganz bewußt darauf gerichtet waren, die Mitglieder der Jury zu verwirren.

Die interessanteste Phase der Verhandlung (die von einer Fernsehstation neun Tage lang ohne Unterbrechung übertragen wurde) war die Vernehmung von Frau Nussbaum, die vor Gericht über ihre bizarre Verbindung zu Steinberg aussagte. Millionen von Zuschauern waren Zeugen, wie sie erzählte, daß sie elf Jahre lang Kokain und andere Drogen genommen hatte gemeinsam mit einem Mann, der sie regelmäßig verprügelte und sie zwang, auf dem Fußboden zu schlafen; im Laufe der Jahre hatte Joel Steinberg einen so starken Verfolgungswahn entwickelt, daß er glaubte, fremde Menschen versuchten ihn mit Blicken zu töten und in den Wänden seien überall Mausefallen versteckt. Nussbaum und Steinberg waren auf so offensichtliche Weise psychisch gestört, daß die Zuschauer jeden Tag aufs neue mit einer Mischung aus Schuldgefühlen und Widerwillen, aber auch mit wachsender Faszination am Fernsehschirm saßen, ohne sich davon losreißen zu können.

Die Medien, insbesondere das Fernsehen, behandelten die Aussagen von Frau Nussbaum in gewisser Hinsicht wie ein Fußballspiel. Eine Fernsehstation engagierte sogar eine „Experten„-Runde, die das Geschehen in den Verhandlungspausen kommentieren sollte. Zeitungs- und Fernsehreporter verbreiteten in der Öffentlichkeit bedenkenlos alle möglichen Aussagen und Beweismittel, die der Richter für nicht zulässig erklärt hatte. Obwohl die Mitglieder der Jury ermahnt worden waren, keine Zeitungen zu lesen und keine Fernsehsendungen zu sehen, wurde bald deutlich, daß ein großer Teil dieser Informationen sie dennoch erreichte.

Je länger die dreimonatigen Verhandlungen sich hinzogen, um so deutlicher wurde, daß hier in Wirklichkeit zwei Prozesse gleichzeitig abliefen: Auf der einen Seite der traditionelle Prozeß im Gerichtssaal, auf der anderen Seite der aufsehenerregende, undurchschaubare und verwirrende Prozeß, den die Medien für die Öffentlichkeit veranstalteten.

Der Hauptverteidiger von Joel Steinberg, Ira D. London, versuchte diesen letztgenannten Prozeß dazu zu benutzen, den Ausgang des ersteren zu beeinflussen. Er war ein Mann von schneller Auffassungsgabe und routiniert im Umgang mit den Journalisten. Er veröffentlichte seine eigene Version der Wahrheit in den Pressekonferenzen, die er täglich im Anschluß an die Verhandlung abhielt. Er erläuterte dabei eingehend die Vorgänge des jeweiligen Tages, beschwerte sich darüber, was er in den folgenden Wochen sagen oder nicht sagen würde. Er wurde ein wahrer Meister dessen, was die Medienexperten „sound bites“ nennen - wohlformulierte kurze Phrasen, die in idealer Weise auf die 90 Sekunden zugeschnitten sind, die ein Beitrag in den Abendnachrichten in der Regel eingeräumt bekommt.

Eine Zeitlang sah es so aus, als würde er damit durchaus Erfolg haben. Am Schluß der Aussage von Frau Nussbaum hatte sich das Hauptinteresse des Prozesses - zumindest das in den Medien stattfindende - auf subtile Weise von der Frage der Schuld Steinbergs auf den Aspekt von Frau Nussbaums Passivität verlagert. Sie wurde ganz offen von Feministinnen angegriffen, die meinten, sie hätte auf jeden Fall ihr Kind beschützen müssen, auch wenn sie selbst noch so sehr gelitten habe. Joel Steinberg selbst hat vielleicht ebenfalls zu dieser Schwerpunktverlagerung beigetragen. Kurz bevor seine ehemalige Geliebte in den Zeugenstand trat, veröffentlichte er einen Brief, in dem er schrieb, daß Lisa „die große Liebe seines Lebens“ gewesen sei, und in einem Fernsehinterview beschwor er Hedda Nussbaum, sie solle doch „die Wahrheit sagen“ - womit er natürlich implizierte, daß sie jetzt ebenso zur Sklavin der Anklage geworden war, wie sie sich vorher zu seiner Sklavin gemacht hatte.

In gewisser Weise hatte das amerikanische Fernsehen seit Jahren gezielt auf eine solche Entwicklung hingearbeitet. Begonnen hatte es damit, daß kurz vor dem Prozeß Filme mit „Nachstellungen“ besonders grauenhafter Verbrechen gezeigt wurden. Gleichzeitig griffen die Gastgeber der Talkshows immer tiefer in die Kiste abweichender Verhaltensweisen, um die Aufmerksamkeit der gelangweilten Zuschauer zu erregen. Die Tatsache, daß die Öffentlichkeit von der Beziehung zwischen Steinberg und Nussbaum so fasziniert war, ließe sich durchaus als ein weiterer Schritt in Richtung auf die immer weiter fortschreitende Verwischung der Grenze zwischen wirklicher und im Fernsehen gezeigter Gewalt interpretieren

-eine Grenze, die noch weiter verwischt wurde, als ein Fernsehreporter während der ersten Verhandlungswoche tatsächlich vor laufenden Kameras von einem erbosten Gast angegriffen wurde.

Glücklicherweise behielten die Mitglieder der Jury im Fall Steinberg einen kühlen Kopf und befanden Frau Nussbaum des vorsätzlichen Totschlags für schuldig - ein Verbrechen, das mit Gefängnis bis zu 15 Jahren bestraft wird. Gleichzeitig ließen sie die schwerwiegende Mordanklage fallen und gaben damit Hedda Nussbaum zu verstehen, daß sie zwar im juristischen Sinne nicht verantwortlich, aber doch moralisch mitschuldig sei.

Dennoch war niemand mit dem Ausgang des Prozesses gegen Joel Steinberg zufrieden. Was zurückblieb, war wie ein schlechter Geschmack auf der Zunge, der immer noch nicht verschwunden ist. Am Beunruhigendsten an der ganzen Sache war vielleicht die Art und Weise, wie die Medien den in hohem Maße komplexen Fall simplifiziert und ihn in eine Art Wettbewerb oder Popularitätsstreit zwischen Nussbaum und Steinberg, den beiden neuen Medienstars, gemacht hat. In dem Dunst des von den Medien erzeugten Nebels ging der eigentliche Kern der Sache verloren - nämlich die Tatsache, daß ein allzu schwerfälliges, an Personalmangel leidendes soziales System - die Polizei, die Schulen, die Adoptionsbehörden usw. - nicht in der Lage war, ein Kind vor zwei durch Drogenkonsum zerrütteten Erwachsenen zu schützen. So schrieb ein Leser an das Nachrichtenmagazin Newsweek:

Zweifellos wird Herr Steinberg im Gefängnis zumindest einen Teil seiner Strafe verbüßen, aber eines Tages wird er wieder entlassen werden... Frau Nussbaum wird eine Therapie erhalten, ihr „neu erwachtes Selbstwertgefühl“ weiter entwickeln und ein Buch über geprügelte Hausfrauen schreiben. In fünf oder zehn Jahren werden beide dann ein neues Leben beginnen - eine Möglichkeit, die die sechsjährige Lisa leider nicht hat.“

Aus dem Amerikanischen von Hans Harbort