Der Engel und die Moderne

 ■ Über Verbleib und Gehalt von Salman Rushdies „Die

satanischen Verse“, derentwegen der Roman-Autor von Chomeinis Nachfolger immer noch mit dem Tod bedroht wird

Von Torsten Schmidt

Ein Mensch, der nur Wasser trinkt, hat seinen Mitmenschen etwas zu verbergen. Baudelair

Überall las man von Rushdies magischem Realismus (viel mehr hatte man nicht zu sagen); diese Bezeichnung mag einiges für sich haben, doch bleibt ein Verweis auf Döblins Poetik ergiebiger: „Im Roman heißt es schichten, häufen, wälzen, schieben...“ (S.20) Genau das ist Rushdies Verfahren, wenn er durch neun Kapitel die Geschichte zweier aus Bombay emigrierter Schauspieler erzählt, besser gesagt, zwei „Nebenfiguren“ in das Getriebe der Weltkräfte Religion, Wirtschaft, Kunst, Alltag, Politik, Film und Kommerz geraten läßt. Um sie, die großen unpersönlichen Subjekte, geht es schließlich in Rushdies unpersönlichem Spiel mit literarischen und filmischen Formen. Rushdie nutzt den alten Indianertrick, die Mokassins umgekehrt anzuziehen; damit hat er den europäischen Leser getäuscht, nicht aber, und das muß man dem gläubigen Leser zugute halten, den Islam. Der weiß genau, worum es Rushdie geht, wenn er mit den Figurationen Teufel und Engel sein Spiel treibt, von den Masken Gut und Böse erzählt. Der Roman zielt genau auf das Herz der Dinge, auf das Problem religiöser Wahrheit und ihrer politischen Verwertbarkeit. Er ist nicht psychologisch, sondern metaphorisch zu lesen.

Verwandlung oder Metamorphose heißt das Zauberwort des Romans, der die unheilvolle Ehe von Politik und Mythos kritisiert und gleichzeitig parodiert. Das Gesicht der Verwandlung ist die Maske. Das Prinzip der Verwandlung wird variiert, nimmt selbst verschiedene Masken an, verwandelt sich stetig, je nach den Umständen, die der Erzähler bereithält. Das Erzählen verwandelt die scheinbar eindeutigen Dinge, verflüssigt die gewohnten Vorstellungen.

Schauspieler Gibril Farishta und Saladin Chamcha, die sich realiter in Teufel und Engel verwandeln, verstehen recht wenig von dem Prinzip der Verwandlung. Für sie geht es gerade darum, sich zu verbergen, einer Realität zu entfliehen. Ihre blinde, wenn auch verständliche Bequemlichkeit, die Kultursphären wie Kleidungsstücke zu wechseln, endet in der Katastrophe der Metamorphose, wird zur „zweibeinigen Lüge“. (S.55)

Alles beginnt irreal, mit dem Fall aus der von Sikh -Terroristen gesprengten Boing 747 „Bostan“. Die Emigranten Gibril und Saladin stürzen haltlos in den Raum des Romans, damit der Leser über neun Kapitel ihre Irrfahrt durch die Kultursphären des Ostens und Westens miterleben kann. Der Roman nimmt von Anfang an kein Blatt vor den Mund, zeigt, daß nichts mit rechten Dingen zugeht und der Erzähler reichlich freiem Umgang mit der Wirklichkeit frönen wird.

Alles endet mit einer Wunderlampe, die das Schicksal der Schauspieler besiegelt. Der eine findet in ihr eine Pistole und begeht folgerichtig Selbstmord, der andere erlebt das Wunder, seine Traumfrau zu erkennen.

Aber zuvor geschieht einiges. Es zeigt sich, zur Freude des Lesers, daß Dinge, die das menschliche Fassungsvermögen übersteigen, nur Unglück nach sich ziehen. Das Leben der beiden Schauspieler wird zum Flop. Jegliche Anstrengung, im westlichen Lebensraum eine neue Identität und die dazugehörige Frau zu finden, endet vorläufig in dem Dilemma der Verwandlung in Engel und Teufel. Gibril, der sein hübsches Gesicht dem Filmgeschäft überschreibt, wird von der Manie eines Heiligenscheins behelligt, und Saladin, dem großartigen Stimmenimitator, dem Mann mit den tausend Stimmen, wachsen Hörner und alle sonstigen Attribute, die man mit einem waschechten Teufel verbindet. Und der Erzähler treibt alles auf die Spitze, wenn er dem Leser weismacht, er selbst sei der liebe Gott. Für begeisterte Leser keine unangenehme Vorstellung, für andere, die lieber Ideen oder leibhaftige Menschen vergöttern, ein Affront.

Und was sind die Folgen? Saladin, der von Kindesbeinen einen gewissen sozialen Status genießt, gerät in die Drangsale des bitteren Alltags. Er wird von der Polizei verprügelt, muß aus einer „Klapsmühle“ fliehen, um schließlich in einer Dachstube den Gestank seiner Verwandlung auszuhalten. Eine Art moderner Ashmodi.

Dem Engel Gibril ergeht es nicht viel besser. Er muß den Schlaf meiden, weil ihn seine Träume der Weltgeschichte aussetzen. Er träumt sich als Erzengel, der Mahound, alias Mohammed, die Suren des Korans einblasen muß, und das, obwohl er als „empirischer“ Mensch seinen Glauben verloren hat. Fatalerweise gibt es für ihn daraus kein Entkommen, da seine Träume immer wieder dort beginnen, wo sie zuvor endigten, gleichsam immer wieder eingeschoben werden wie eine Videokassette.

Stars sind ein Machtpotential und gleichzeitig gewöhnliche, oftmals schwache Menschen. Diese simple Dialektik wird gerade Gibril, der in seinen Filmen und Träumen mythologische Rollen spielt, zum Verhängnis. Psychologisch betrachtet, wird seine Existenz schizophren, ethisch betrachtet, problematisch. Problematisch, weil gerade seine Identität mit dem Guten ihn in einen Helfershelfer der Mächtigen verwandelt. Der Teufel Saladin kommt da ideologisch besser weg, weil er das für die Mächtigen Unliebsame darstellt.

Gibril lebt bzw. träumt sein Leben zwischen Propheten und Filmbossen, die ihn schamlos als Star oder Erzengel ausbeuten, um die Wirklichkeit nach ihrem Belieben zu ordnen. Kulturschmock und Offenbarungsreligion, insbesondere in monotheistischer Ausformung, gehen darauf aus, jeglichen Freiraum einzudämmen. So versteht Rushdie die Analogie zwischen korrupter Filmindustrie und dem Absolutheitsanspruch einer politisch eingesetzten Religion. Beide Machtapparate arbeiten mit Mythen, um den Fortgang der Geschichte, um einen bestimmten Status quo zu legitimieren. So auch der Iman, ein passionierter Wassertrinker, mit dem Rushdie auf Chomeini anspielt: „Geschichte ist eine Abweichung vom Pfad, Wissen ist eine Illusion, denn an dem Tag, als Al-lah seine Offenbarung an Mahound vollendete, war auch alles Wissen vollendet... Wir werden den Schleier der Geschichte vernichten.“ (S.214) Oder der Filmboß Hal Valance: „Weg mit den alten, wirren, inkompetenten Scheißkerlen aus Surrey und Hampshire, her mit den Neuen. Leute ohne Hintergrund und Geschichte.“ (S.273) Alles „Nichtidentische“, wie Sexualität (vgl. Rushdies Provokation mit dem Bordell „Der Schleier“, wo die Prostituierten die Namen der zwölf Frauen Mahounds annnehmen) und Kunst, soll ausgemerzt werden.

Viele, auch die, die den Roman nicht gelesen haben, kennen den historischen Hintergrund, auf dem Die satanischen Verse beruhen, aus der Presse. Rushdies Augenmerk ging besonders auf die 53. Sure des Korans. Sie zeichnet sich durch Streichungen aus. In der ursprünglichen Fassung hat Mohammed aus politischen Gründen die drei Götter Lat, Uzza und Manat neben Allah gestellt. Als dieser politische Schachzug nichts fruchtete, strich er die Stellen unter dem Vorwand, diese Verse hätte ihm der Satan eingeflüstert. Diesem Fauxpas des Propheten widmete Rushdie zwei Kapitel. Verbunden mit der Gegenwart des Romans durch das träumende Medium Gibril machen sie die entscheidende Binnenerzählung aus. In dieser Spannung zwischen zwei Zeitebenen erweist sich die fatale Rolle des Guten in der Geschichte. Der Erzengel Gibril, den Machtgelüsten Mahounds ausgeliefert, wird zur Doppelrolle gezwungen. Hat er ohnehin den Glauben an seine Legitimation durch Gott verloren, wird ihm bewußt, daß sowohl die offiziellen Verse des Korans als auch die vermeintlichen Satanischen Verse den gleichen Ursprung haben. Gibril wird zum Boten, der seine Botschaft selber schreiben muß - und das unter Zwang. Selbst dann, wenn er in eigener Regie etwas Gutes tun will, seine „Traumrolle“ im Alltag verwirklichen will, bekommt er nur eine Ohrfeige: „In den Augenblicken, da ein Traum vergeht, beginnen die Geräusche der wirklichen Welt in das Bewußtsein des Träumers einzudringen.“ (siehe Rushdies Vorwort zu Die Nehrus und die Gandhis von Tariq Ali, S.12-13)

Manche Leser werden fragen - sie sind nicht unbedingt die Verständigsten -: Warum müssen in dem Roman Teufel und Engel leibhaftig auftreten? Teufel und Engel helfen, die Sache plausibel zu machen. Gerade mit diesen Figurationen von Gut und Böse gelingt es Rushdie, den Rassismus beim Wort zu nehmen. Und das geht so: Um vor einem weißen Rassisten bestehen zu können, muß der Farbige ein Engel sein. Ist er kein Engel, so ist er halt ein Teufel. Einfach, aber wahr, wie zwei Zitate belegen: Verwundert über seine Verwandlung in einen Teufel, fragt Saladin in der „Klapse“ einen Leidensgenossen nach dem Grund seiner neuen Gestalt, und der antwortet: „Sie (die Weißen) beschreiben uns... Das ist alles. Sie haben die Macht der Beschreibung, und wir sind ihren Bildern unterworfen, die sie sich von uns machen.“ (S.173) Oder andersherum sagt der Antirassist Dr.Uhuru Simba: „Man muß kein Engel sein, um unschuldig zu sein, außer wenn man schwarz ist...“ (S.411) Das sind Stellen, die weniger auf den Islam als auf uns zielen.

Und es gibt da noch den Punkt, den man, weil er vielen so unangenehm ist, nochmals wiederholen muß. Die Moral, die Werte Gut und Böse, greifen nicht mehr, sie dienen nur noch politischen Interessen als Ordnungsprinzipien. Für den Privatmenschen - dem Skeptiker ein genüßlicher Gedanke - ist es letztlich gleichgültig bzw. Zufall, ob er sich für das Gute oder Böse entscheidet. Das mag Psychologen, Soziologen und Rechtswissenschaftler wenig tangieren, für einen Schriftsteller wie Rushdie bedeutet das die Chance, Teufel und Engel eine neue Maske zu verleihen. Literatur ahmt die unheilvolle Verbindung von Mythos und Politik nach, macht das Prinzip der Ideologie zur Form, um es dann als kalkuliertes Ordnungsprinzip zu demaskieren.

Um keinen Zweifel aufkommen zu lassen: Auch wenn Rushdie die Alltagsmoral diffamiert, so bedeutet das nicht, daß seine Satanischen Verse unmoralisch sind. Das mag Fanatikern so erscheinen, weil sie den Autonomiegedanken der Kunst entweder nicht kennen oder unterschlagen. Kunst hat ihre eigene Gesetzmäßigkeit und ihre eigene Moral. Daher ist es kein Widerspruch, wenn sich der Autor gerade von der Polizei vor Mordanschlägen schützen läßt, die er im Roman aufs schärfste attackiert hat. Das mag dem gesunden Menschenverstand paradox erscheinen, aber die Sache steht nun einmal so, daß es in einer funktional ausdifferenzierten Gesellschaft nicht darum geht, die Suppe, die man sich eingebrockt hat, auch auszulöffeln. Dieser „Suppenideologie“ frönen gerade die Moralapostel (ebenso Wassertrinker), die über jeden Fanatismus erhaben scheinen wollen.

Der Verzicht, Gott erkennen zu können - einerseits redlich und in der Geschichte der Theologie zwangsläufig -, wird, politisch ausgenutzt, zu einer Maske des Schreckens. Gott wird zum Stichwort für Diktatoren, „das nicht zu Rechtfertigende zu rechtfertigen“. (S.101) So ist es konsequent, daß für Rushdie die Skepsis nur im Zusammenhang mit der Geschichte, mit der Zeit ihre vernünftige Substanz behält. Und dieser Zusammenhang ist weiß Gott verwickelt, denn sein Roman läßt sich schwerlich als eine Apologie auf die Geschichte lesen, wie sie einst die Aufklärung hegte: Sie hat viele Masken.

Einerseits gibt es die Geschichten, die der Erzähler ausbreitet, um dem Leser die Orientierung zu erschweren, zum anderen wird innerhalb des Romans die historische Geschichte thematisiert. Formal konkretisiert sich das, weil Rushdie die achtziger Jahre mit dem achten Jahrhundert Mohammeds verknüpft. Der Kitt zwischen diesen beiden Zeitebenen sind Gibrils Träume: Signum dafür, wie labil jegliche sinnhafte Verknüpfung zwischen Ereignissen ist. Rushdies Sichtweise legt nahe, daß alles beim alten bleibt. Die Mächtigen negieren die Geschichte (daher die Analogie zwischen Propheten und Filmbossen), um eine bestimmte Ordnung zu verabsolutieren. Die Konstruktion des Romans, die mit dieser Analogie arbeitet, spricht für einen Geschichtspessimismus. Und doch ist dieser Geschichtspessimismus heuristisch zu deuten, denn er läßt gegenüber der Geschichtsfeindlichkeit immerhin noch die Möglichkeit einer Veränderung bestehen. Er rechnet mit dem Zeitfaktor. Das ist entscheidend, denn jeglicher Zweifel an etwas bedarf der Zeit, sich zu äußern. Der Zweifel setzt das Nacheinander von Sachverhalten voraus, damit er sie neu ordnen kann. Apologeten der absoluten Wahrheit möchten die Zeit auf einen Punkt reduzieren, um dem Zweifel die Zeit zu nehmen, sich zu äußern. Gerade ein Roman, der sich die Skepsis zum obersten Gebot macht, bedarf der Zeit, gelesen zu werden, denn lesen heißt nichts anderes, als die Dinge immer wieder neu zu verknüpfen.