China zählt ein Fünftel der Menschheit

■ Bei der Volkszählung sollen ungeplante Kinder, illegale Wanderarbeiter und Ehepaare ans Tageslicht kommen

Aus Peking Boris Gregor

In einer Kleinstadt nördlich von Peking leitet ein Polizist den Verkehr um: „Demonstration“ erklärt er den Autofahrern. Die Menschen, Pioniere vorneweg, marschieren hier aber nicht für mehr politische Freiheiten. Der Aufzug mit Musik, roten Fahnen und Parolen dient der Werbung für eine Staatsaktion die nationale Volkszählung, die Mitte nächster Woche nach zehn Tagen Dauer beendet sein wird. Der offizielle Propagandaslogan lautet „Volkszählung - jeder ist verantwortlich“.

Es ist ein gigantisches Unterfangen, das die Genossen bewältigen wollen: Um die zentrale Planwirtschaft besser organisieren und das Ausmaß der Bevölkerungsexplosion besser abschätzen zu können, will Peking exakte Daten über die soziale und demographische Lage, vor allem auf dem Lande. Sieben Millionen „besonders zuverlässige“ und speziell trainierte Interviewer befragen rund 1,1 Milliarden Bürger über Familienstand, Wohnsituation, Bildung und hygienische Bedingungen bei der Geburt ihrer Kinder.

Doch das Vorhaben, das vierte seiner Art seit Gründung der Volksrepublik 1949, stößt nicht nur auf Gegenliebe, denn viele haben etwas zu verbergen. Entgegen der offiziellen Ein -Kind-Politik setzten Ehepaare zum Beispiel „illegal“ weitere Kinder in die Welt und verheimlichten dies dem Staat aus Angst vor Geldstrafen oder beruflichen Nachteilen.

In einem kleinen Vorort der Hauptstadt fanden die Zähler bei einem Probelauf bereits über 300 nicht registrierte Kinder. Diese vom Volksmund „schwarze Kinder“ genannten Sprößlinge will der Zensus nun rückhaltslos ans Tageslicht holen. Ihre Zahl wird im ganzen Reich der Mitte auf rund zehn Millionen geschätzt. Entdeckt werden können bei der Volkszählung auch an Bauern verkaufte Ehefrauen oder auch Paare, die eigentlich keine sein dürften: Junge Leute, die geheiratet haben, obwohl sie das gesetzlich vorgeschriebene Mindestalter von 22 Jahren noch nicht erreicht hatten - auf dem Lande schauen die Standesbeamten da nicht so genau hin, wenn dabei ein paar Scheinchen Volkswährung den Besitzer wechseln.

Die offizielle Nachrichtenagentur 'Neues China‘ umschrieb treffend die Stimmung der Bürger: „Die Zählung macht einige Chinesen nervös. Die Wanderbevölkerung fürchtet, nach Hause geschickt zu werden. Familien mit 'ungeplanten‘ Kindern haben Angst vor Strafen, und Privathändler fürchten die Steuer.“

Die Behörden versichern zwar, daß die gesammelten Daten nicht der Polizei oder den Familien-Planungsbüros übergeben werden. Zhu Yilin, verantwortlich für die Erhebung in der Hauptstadt Peking, sagt: „Wir haben strenge Regeln, um private Einzelheiten geheim zu halten.“ Allerdings: Die Aktion ist nicht anonym. Verweigern darf sich niemand, und wer glaubt schon den Versicherungen eines Staates, der sonst keinen Datenschutz und keinerlei Rücksichtnahme auf die Privatsphäre kennt.

Doch nicht nur für die Befragten bringt die Volkszählung Probleme, sondern auch für die Interviewer. Sie müssen die Millionen Gelegenheitsarbeiter und Händler erfassen, die ohne Genehmigung in den Metropolen leben, weil sie sich dort bessere Chancen ausrechnen, einen Job zu bekommen. Nachts streichen deshalb Zähler durch Pekings Gassen, um in Schlupflöchern und Absteigen solche Illegale aufzuspüren. Ebenso kompliziert ist es, jener großen Masse von Chinesen habhaft zu werden, die auf der Suche nach einer Stelle ohne festen Wohnsitz ständig im Land umherzieht. Experten schätzen deren Zahl auf 50 Millionen Menschen.

Das endgültige Ergebnis soll nach gründlicher Auswertung erst 1992 bekanntgegeben werden. Ein Ergebnis der Volkszählung steht jedoch schon heute fest: Es gibt auf zu wenig Platz zu viele Chinesen, und sie vermehren sich zu stark - präzise um 34.000 Menschen pro Tag. Denn das Bevölkerungswachstum hat sich trotz strenger Geburtenkontrollpolitik in letzter Zeit wieder beschleunigt, da in diesen Jahren die Zahl der Frauen, die ins gebärfähige Alter kommen, immer größer wird. Viele Bemühungen der chinesischen Regierung, den Lebensstandard ihrer Bürger zu erhöhen, werden damit in den kommenden Jahren zum Scheitern verurteilt sein.