„Mit einer Decke sind wir nicht zufrieden“

■ Obdachlose in den USA besetzen leerstehende Häuser / Tagsüber räumt die Polizei, nachts kommen die „street people“ wieder / Selbsthilfeprojekt „Dignity Housing“ ist erfolgreich / Washington tut wenig für die sieben Millionen Obdachlosen

Aus Minneapolis M. Bauerlein

„Brecheisen bitte!“ Matt Groemmons setzt an, ruckt ein paarmal und löst das Brett. Dann tritt er zurück, hebt die Sperrholzplatte mit beiden Armen in Siegerpose über seinen Kopf. „Unser Haus ist wieder offen!“ ruft er ein paar Leuten zu, die gespannt neben ihm stehen und nun beginnen, Rucksäcke, Schlafsäcke, und Kisten ins Haus zu schleppen.

Die Szene könnte geradewegs aus den Berliner, Münchner oder Hamburger Hausbesetzungen in den 80er Jahren stammen. Doch der Schauplatz ist Minneapolis im Jahr 1990. Häuserbesetzen erfreut sich in den USA steigender Beliebtheit - besonders bei den militanten Obdachlosengruppen, denen Lobby-Arbeit nicht mehr genügt. Organisationen wie „Up and Out of Poverty Now!“, „Housing Now!“ und die „National Union fo the Homeless“ sehen die Besetzungen als Mittel an, amerikanische Wohnungspolitiker aus ihrer Lethargie zu reißen. „Wir wollen zeigen, daß wir mit einer Decke und einer Suppe nicht mehr zufrieden sind“, sagt die Besetzerin Cheri Honkala.

Honkala, eine 28jährige Inzestüberlebende, war mit 18 schwanger und wohnte in einem Auto, das sie vom Schrott geholt hatte. „Ich dachte immer, daß mir nichts Besseres zustände“, sagt sie. Heute ist sie anderer Meinung, und wenn das Bessere nicht von allein kommt, ist sie bereit, es sich zu nehmen. „Schön, wir brechen das Gesetz. Aber ein Gesetz, das den Bürgern grundlegende Menschenrechte wie Wohnen und Essen nicht garantiert!“ Diese Haltung teilen die meisten Mitglieder der etwa 50 Mitglieder starken Hausbesetzergruppe in Minneapolis. Die Mitglieder, fast alle obdachlos, manche mit Kindern, starteten ihre Aktionen am 1.Mai zusammen mit 50 weiteren Hausbesetzergruppen überall in den USA. Keines der besetzten Häuser gehörte Privatleuten; die Besetzer wollten ihre Demonstrationen deutlich gegen die Bundesregierung richten, die in fast jeder Stadt hunderte leerstehender Häuser besitzt. Nach vier Wochen kam zum ersten Mal die Polizei. Seither - zwei Monate lang - haben Behörde, Polizei und Besetzer fast jede Nacht Katz und Maus gespielt. Tagsüber nageln die Beamten des Wohnungsbauministeriums Bretter vor Türen und Fenster, abends kommen die Obdachlosen wieder, morgens erscheint die Polizei.

Die Obdachlosen richten ihren Protest auch deshalb gegen die Bundesregierung, weil diese ihrer Meinung nach direkt dafür verantwortlich ist, daß sieben Millionen Amerikaner kein Dach über dem Kopf haben. Seit dem Einzug der Reagan -Administration 1980 sind die Zuschüsse für Sozialwohnungsbau und Mieten von 32 auf knapp sieben Milliarden Dollar geschrumpft. Zur gleichen Zeit subventionierte die Regierung Baufirmen, die Einkaufszentren und Bürotürme in die Innenstädte brachten. Diese Bauten verdrängten weitere billige Wohnviertel, und die Obdachlosenzahlen stiegen.

Heute flimmern die Bilder von lumpengekleideten Armen in den Einkaufsstraßen der USA über die Fernsehschirme. Doch die „street people“ stellen lediglich die Spitze des Obdachlosen-Eisbergs dar. In Minneapolis/St. Paul, einer Stadt des Mittelwestens, wird geschätzt, daß von 600.000 Bewohnern mindestens einmal im Jahr 30.000 obdachlos sind. Viele dieser Menschen werden von der offiziellen Statistik nicht erfaßt, sie kommen bei Freunden und Verwandten unter, ziehen von Stadt zu Stadt oder nehmen Nachtjobs an, so daß sie kein Schlafquartier brauchen. Nyla Columbus ist so ein Fall. Bis vor einem Jahr wohnte sie mit drei Kindern bei ihrer Mutter, weil sie sich mit ihren knapp über 600 Dollar Sozialhilfe keine Wohnung leisten konnte. Dann starb die Mutter, und Columbus stand auf der Straße. Seit dem 1.Mai hat sie wieder eine Wohnung - eine besetzte.

Langsam wirkt die Guerillataktik der Hausbesetzer. Zwar zeigte sich Washington wenig beeindruckt von den Protesten in der Provinz, doch einzelne Kommunalregierungen beginnen, einzulenken. „Im Prinzip könnten wir durchaus Verbündete sein“, erklärte der Chef der Wohnungs- und Stadtplanungsbehörde in Minneapolis zur allgemeinen Verblüffung. „Wir haben schließlich alle unter der Politik der Bundesregierung gelitten.“ Die Behörde stellte den Besetzern ein Haus zur Verfügung und versprach, ein Wohnungsprojekt zu entwickeln, das von Obdachlosen selbst verwaltet wird.

Solche Bündnisse zwischen Hausbesetzern und Kommunalpolitikern sind inzwischen gar nicht mehr selten. Das Modell liefert Philadelphia, wo noch vor acht Jahren der Bürgermeister Bomben auf besetzte Häuser werfen ließ. Heute arbeiten Bomber und Besetzer gemeinsam an einem Modellprojekt namens „Dignity Housing“, „Wohnen mit Menschenwürde“. Das von Obdachlosen verwaltete Projekt kauft leerstehende Häuser knapp unter Marktpreis auf, läßt sie von Obdachlosen renovieren und vermietet sie an Obdachlose. Außer Wohnungen bietet das Projekt Kinderkrippen, Alkohol und Drogentherapie und Unterstützung bei der „Lebensplanung“. Im Gegenzug wird von allen Mietern erwartet, daß sie sich bemühen, von Sozialhilfe auf eigenes Einkommen umzusteigen. Etwa 50 Prozent der Mieter haben das bereits geschafft. Und in Oakland bei San Francisco, Detroit und New York gibt es bereits ähnliche Pläne.

Wohnprojekte dieser Art können das Sieben-Millionen -Obdachlosenproblem der USA nicht lösen. Doch den Hausbesetzern kommt es darauf an, einen Anfang zu machen, meint Cheri Honkala: „Wenn wir erstmal eine Basis haben, ein paar Wohnungen, Telefon, etwas Geld, werden wir viel stärker sein.“ Die Besetzer wollen ihre Aktionen weiterführen „bis sich in Washington was ändert“. „Wir wollen uns nicht mit Krumen zufriedengeben“, sagt Honkala. „Diesmal wollen wir den ganzen Laib.“