Einstein zum Trotz: Chaos regiert die Welt

■ Mit seiner These „Gott würfelt nicht“ irrte der Entdecker der Relativitätstheorie nicht nur im atomaren, sondern auch im galaktischen Bereich / Die moderne Chaos-Forschung zerstört endgültig das Newtonsche Weltbild / Von der Ordnung im Chaos

Von Wolfgang Blum

„Wir befinden uns inmitten einer Revolution, die weit über die klassischen Naturwissenschaften Physik, Chemie und Biologie hinausgreift. Sie zieht Mathematiker in ihren Bann und fasziniert Sozialwissenschaftler ebenso, wie Ökologen und Ökonomen“, meint Bernd-Olaf Küspers vom Max-Planck -Institut für Biophysikalische Chemie in Göttingen. Einen einheitlichen Namen hat diese Revolution (noch) nicht. Chaos -Forschung, Nichtlinearität, Strukturwissenschaft und Theorie der komplexen Systeme lauten die Schlagwörter.

Seit dem 17. Jahrhundert, als die exakten Naturwissenschaften begründet wurden, gingen Forscherinnen und Forscher davon aus, daß alles vorhersehbar und berechenbar ist. So läßt sich ja auch mit den Newtonschen Gesetzen der Mechanik einiges berechnen: sei es der berühmte Fall des Apfels vom Baum, der Lauf einer Billardkugel oder die Bewegung der Planeten. Bis Ende des 19. Jahrhunderts galt Newtons Physik als allgemein gültig.

Erst als die Wissenschaftler daran gingen, die Welt im kleinen und im großen zu untersuchen, stießen sie an die Grenzen des Newtonschen Weltbilds - im atomaren wie galaktischen Bereich. Die Relativitäts- und die Quantentheorie entstanden und mit ihnen große Umwälzungen in der Wissenschaft. Die These, alles sei vorhersehbar und berechenbar, erhielt ihren ersten Knacks: Nach der Quantentheorie ist es unmöglich, Ort und Impuls eines Teilches gleichzeitig exakt zu bestimmen. Lange Zeit war diese Tatsache heiß umstritten. Sogar Albert Einstein wollte es zunächst nicht glauben: „Gott würfelt nicht“ war sein Kommentar.

Wenn Schmetterlinge

Wirbelstürme machen

In den letzten Jahren nun ist das Dogma „alles ist vorhersehbar und berechenbar“ vollständig zusammengebrochen. Als es durch die Entwicklung leistungsfähiger Computer möglich wurde, komplexe Systeme zu untersuchen, mußten die WissenschaftlerInnen feststellen, daß nichts als Chaos die Welt regiert.

Beispiel Wettervorhersage: Der Volksmund wußte es schon längst. „Kräht der Hahn auf dem Mist, ändert sich's Wetter oder bleibt wie's ist“. Mittlerweile geben auch MeteorologInnen zu, daß verläßliche Wettervorhersagen ein Ding der Unmöglichkeit sind. Und zwar nicht, weil moderne Großcomputer immer noch zu klein und zu langsam sind für komplexe Simulationsrechnungen, sondern aus prinzipiellen Gründen: Die Entwicklung des Wetters ist ein chaotisches Phänomen. Kleine Einflüsse heute können das Wetter von morgen entscheidend mitbestimmen. Im Extremfall löst der Flügelschlag eines Schmetterlings in China zwei Wochen später in Europa einen Wirbelsturm aus. Winzige Veränderungen der Anfangsbedingungen können große Wirkung haben. Da natürlich keine Meßstation der Welt in der Lage ist, Schmetterlinge zu berücksichtigen, kann es keine sichere Wettervorhersage geben.

Das Wetter von morgen hängt zu sehr von der exakten Bestimmung von Temperatur, Windgeschwindigkeit, Luftdruck und Feuchtigkeit von heute ab. Dieser Tatsache tragen die MeteorologInnen Rechnung. So wird eine Prognose im Europäischen Zentrum für mittelfristige Wettervorhersage im englischen Reading von den dortigen Großcomputern nicht einmal, sondern 25mal berechnet - und zwar jedesmal mit minimal veränderten Anfangswerten für Temperatur, Wind, Druck und Feuchtigkeit. Die Rechenergebnisse belegen, daß fast gleiche Ausgangsbedingungen zu sehr unterschiedlichen Vorhersagen führen. Wenn zum Beispiel bei nur zwei der 25 Rechnerläufe „Regen in Norddeutschland“ herauskommt, lautet die Prognose des Zentrums Trockenheit. Aber selbst wenn in allen 25 Hochrechnungen das Ergebnis „kein Regen in Norddeutschland“ ist, besteht keine Sicherheit. Rechnerlauf Nummer 26 könnte schließlich das Gegenteil ergeben.

Der Grund dieser enormen Sensibilität der morgigen Wetterlage von der heutigen liegt in der Nichtlinearität der klimatischen Entwicklung. Nichtlinearität bedeutet, daß der Einfluß des Luftdrucks zum Beispiel nicht immer gleich ist, sondern abhängt von Wind, Temperatur und Feuchtigkeit. Ein geringer Meßfehler bei der Temperatur führt nicht nur zu einer Veränderung des Einflusses der Temperatur auf das Wettergeschehen, sondern verändert auch die Bedeutung von Druck, Wind und Feuchtigkeit. Die Wirkung verschiedener Faktoren addiert sich nicht einfach, das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. Das System „Wetter“ ist rückgekoppelt.

Bis vor wenigen Jahren versuchten die WissenschaftlerInnen aller Disziplinen, die Welt in lineare Modelle zu pressen. Man nahm an, der Einfluß jeder Meßgröße sei unabhängig von allen anderen Meßgrößen und verhalte sich darüberhinaus proportional zum gemessenen Wert. Chaos kam in derlei (Denk -) Modellen nicht vor. Gleichzeitig jedoch konnten viele Phänomene so nicht erklärt werden.

Die innere Symmetrie und Ordnung im Chaos

Daß Nichtlinearität chaotische Ergebnisse zeitigen kann, haben die französischen Mathematiker Gaston Julia und Pierre Fatou unabhängig voneinander bereits zur Zeit des ersten Weltkriegs entdeckt. Die beiden gaben die Ergebnisse einer einfachen nichtlinearen Rechenübung immer wieder in die gleiche Formel ein. Das Resultat der unendlichen Wiederholung der Operation war eine Wolke aus unendlich vielen - bildlich damals freilich noch nicht darstellbaren Punkten, die heute Julia-Menge genannt wird.

Erst Jahrzehnte später setzte Benoit Mandelbrot vom US -Computerkonzern IBM die Arbeit der beiden Franzosen fort. Er färbte auf einem Computerbildschirm die Punkte, die bei unendlicher Anwendung der einfachen nichtlinearen Rechenvorschrift in einem endlichen Bereich bleiben. Die gefärbten Punkte bilden die Mandelbrot-Menge, die wegen ihres Aussehens auch Apfelmännchen genannt wird. Faszinierend ist ihr Rand, der aus chaotisch in sich verschlungenen „Seepferdchen“ verschiedener Größe besteht.

Bei immer stärkerer Vergrößerung bilden sich immer wieder neue den großen ähnliche Strukturen im kleinen. Auch das Apfelmännchen selbst taucht wieder auf. Die chaotisch -graziösen Bilder Mandelbrots machten bald auch außerhalb der Mathematik Karriere und inspirierten ForscherInnen anderer Wissenschaftsdisziplinen. Man entdeckte, daß viele auch einfach zu beschreibende Prozesse chaotisch ablaufen. Ein schlichtes Pendel beispielsweise schwingt normalerweise eintönig hin und her, bis es, durch Reibung und Luftwiederstand gebremst, am tiefsten Punkt seiner Bahn stehenbleibt. Hält man jedoch Magneten in seine Nähe, so führt diese Manipulation geradewegs ins Chaos. Das Pendel folgt extrem wirren - chaotischen - Bahnen, die ausgesprochen sensibel auf veränderte Startpositionen reagieren.

Minimale Änderungen der Ausgangsstellung führen zu vollkommen verschiedenen Schwingbewegungen. Färbt man alle Startpunkte, bei denen das Pendel, wenn es zur Ruhe kommt, in die Richtung eines Magneten weist, so entsteht ein chaotisches Bild. Neben einem großen Fleck besteht es aus zahllosen kleinen Punkten und Fasern. Wie das Apfelmännchen weist aber auch dieses Bild eine innere Symmetrie und Ordnung auf.

Wetter, Mandelbrots Modell und gestörtes Pendel sind dynamische Systeme (das heißt Systeme, die ihren Zustand mit der Zeit ändern), die stark rückgekoppelt sind. Der Zustand eines solchen Systems in der Zukunft hängt nur vom jetzigen Systemzustand ab; auf diesen reagiert es aber sehr sensibel. Die kleinste Veränderung des jetzigen Zustands kann risige Veränderungen in der Zukunft verursachen. Prozesse, die von ihrer eigenen Vergangenheit bestimmt werden, nennt man selbstregulierend. Sie steuern sich selbst.

Beispiele für selbstregulierende Prozesse gibt es viele: chemische Reaktionen, Turbulenzen in Flüssigkeiten, Computernetzwerke, das Verhalten von Tierpopulationen (Räuber und Beute), die Evolution des Lebens auf der Erde, die Marktwirtschaft (die berühmten Selbstregulierungskräfte des Marktes, ja, ja, d.Säzza) bis hin zur Entwicklung des ganzen Universums. Die meisten davon verhalten sich nichtlinear. Für Chaos-ForscherInnen ein weites, ein chaotisches Feld.