Opposition im Dilemma

■ 163 Tage vor der gesamtdeutschen Wahl gehen SPD und Grünen die Argumente aus / Grüne: Kohls Erfolg Niederlage der Friedensbewegung/ Bahr (SPD): „Anfang vom Ende der Nato“

Kohl hat erreicht, was er wollte. Er hat Geschichte gemacht. Er und niemand anders ist der Kanzler der deutschen Einheit. Mit einem durchaus flexiblen und umsichtigen Management haben Kohl und Genscher, Seiters und Schäuble damit den gesetzten Traum der Deutschen, den mehrheitlichen Konsens verwirklicht.

167 Tage vor der gesamtdeutschen Parlamentswahl ist die innenpolitische Opposition ins Abseits der Mäkler oder auf die Galerie der Akklamateure gestellt. Für die Fraktion der Grünen im Bundestag zollten Antje Vollmer, Willi Hoss und Helmut Lippelt der Bundesregierung „Respekt“. Weniger als Ermahnung denn im Konsens mit Kohl und Genscher forderten sie, die „Einigung Europas“ voranzubringen und die Forderung Polens nach einer vertraglich gesicherten Westgrenze noch vor der Vereinigung zu erfüllen. „Soviel Fortune“ hätten sie weder erwartet noch erhofft.

Ebenso einfallslos wie mit gewohntem Verbalradikalismus äußerte sich hingegen der Vorstandssprecher der Grünen Partei, Hans Christian Ströbele. Kohl habe die schwierige wirtschaftliche Lage der UdSSR „eiskalt für sein eigenes machtpolitisches Kalkül ausgenutzt“. Die westlichen Nachbarn und die Sowjetunion seien „vor dem deutschen Machtanspruch zurückgewichen“. Ströbele fühlt sich „an die Lage vor dem Zweiten Weltkrieg erinnert“. Vor allem die „Stationierung von Nato-Truppen bis an die Oder“ sei „ein schwerer Rückschlag für die internationale Friedensbewegung“.

Tatsächliches Ergebnis dieser Verhandlungen in Stawropol ist, daß in Deutschland zum ersten Mal seit dem Ende des zweiten Weltkrieges wirklich abgerüstet wird. Das Land der Welt, das am dichtesten mit Panzern, Raketen, Chemiewaffen und atomarer Artillerie vollgepflastert war, in dem sich weit über eine Million Soldaten feindlich gegenüberstanden, wird militärisch auf europäisches Normalmaß heruntergestutzt. Mehr als die Hälfte der Soldaten werden entweder gar nicht mehr eingezogen oder, soweit sie der Roten Armee angehören, mit deutscher Hilfe in zivile Berufe entlassen werden. Tausende von Panzern, Abschußrampen werden verschrottet. Aus Hunderten von Kasernen werden Wohnquartiere werden. Der Rüstungsetat wird um viele Milliarden DM entlastet werden. Wie der militärisch -industrielle Komplex in Deutschland darauf reagiert, bleibt abzuwarten.

Die SPD wurde am Montag nachmittag von Kohls Triumph offenbar kalt erwischt. Während ihr Spitzenkandidat Lafontaine sich auf einer Pressekonferenz in Bonn noch über Kohls „Alleingänge“ mokierte, die gestiegenen Hypothekenzinsen geißelte und nicht sagen mochte, ob die SPD, falls sie die Wahl gewinnen sollte, die Steuern erhöhen würde oder nicht, konnte Lambsdorff bereits verkünden: Die freiwerdenen Gelder im Verteidigungshaushalt könnten „beispielsweise für den Umweltschutz, die Entwicklungspolitik und für Aufbauarbeiten in der DDR verwendet werden“. Kohl kann darauf verweisen, daß der Fünf -Milliarden-Kredit für die Sowjetunion über Jahre hinaus Arbeitsplätze im deutschen Maschinenbau sichern und zusätzlich schaffen wird. Das gilt insbesondere für den Maschinenbau der DDR. Im übrigen müssen die Sozialdemokraten, die immer wieder auf die sozialen Kosten der Vereinigung abheben, sich über eine spezifische Gefahr ihrer Argumentation im Klaren sein. Der Frankfurter 68er und Stadtrat für Multikulturelles, Daniel Cohn-Bendit, warnte gestern die Opposition davor, „immer wieder ins Horn einer sich entsolidarisierenden Gesellschaft zu blasen“ und den Widerspruch, wonach 70 Prozent der Deutschen für die Einheit seien und 70 Prozent der Bundesdeutschen dafür aber nichts bezahlen wollen, als den politischen Hebel für die kommende Wahl zu benutzen.

Entsprechend den eigenen politischen Vorgaben hatte Lafontaine gestern folgendes Tagesprogramm: gemeinsame Sitzung mit der SPD-Volkskammerfraktion, Besuch beim Ostberliner Oberbürgermeister Tino Schwierzina und Teilnahme an einer Bauarbeiterdemonstration am Alexanderplatz. Um danach zu versuchen, der Bürgerrechtsbewegung in der DDR Listenplätze bei der SPD anzudienen.

Ganz anders der Architekt der von Brandt entwickelten und von Kohl und Genscher fortgeführten deutschen Ostpolitik, Egon Bahr. Für ihn ist die „Stunde des größten Nato -Triumphes auch der Anfang vom Ende der Nato“. Das westliche Militärbündnis verliere seinen Sinn, wenn keine Sowjet -Truppen mehr in den ehemaligen Ostblockländern stationiert seien. Bahr wertet das Verhandlungsergebnis von Moskau als Erfolg. Gleichzeitig warnte er vor einer schleichenden Umorientierung der Nato: „Die USA dürfen Deutschland nicht weiter als 'unsinkbaren Flugzeugträger‘ für weltweite militärische Aktivitäten nutzen.“

Tatsächlich aber erscheint die innenpolitische Ausgangslage in Deutschland offen. Zweifelsohne werden Kohl und Genscher die kommenden gesamtdeutschen Wahlen gewinnen. Offen ist allerdings die Frage, wie hoch danach ihr Handlungsspielraum sein wird. Denn es ist wahrscheinlich, daß die Bundesratsmehrheit fest in der Hand der SPD bleibt.

Die sozialen Ängste in Deutschland Ost und West werden auch in den Landtagswahlen in der DDR ihren Niederschlag finden, und die hessische Landtagswahl ist für die CDU auch schon verloren. So wird der Zwang zur innenpolitischen Kohabitation die nächsten vier Jahre prägen. Und auch dann erst wird über die langffristigen Folgen und Veränderungen, die sich aus der deutschen Einheit ergeben, entschieden werden.

G.A./mtm